Der Kritiker

Die größte Überraschung, die man über den Kritiker herausfinden kann, ist die,
dass er jeden Autor erwischt. Als junger Autor denkt man immer, wenn man einige
Geschichten veröffentlicht hat, würde der Kritiker sich beruhigen. Man hofft, dass
man den eigenen Fähigkeiten vertrauen kann und nicht mehr von Zweifeln und 
Frustrationen geplagt wird. Später begreift man, dass das so nicht funktioniert.
Man kann Autoren von Bestsellern treffen, die immer 
noch die Stimme des Kritikers hören.
Wenn du erfolgreich bist und Bücher veröffentlicht hast, wächst deine Zufriedenheit. 
Aber nie bis zu dem Punkt, an dem der innere Kritiker verstummen würde. Vielleicht
ist das auch gut so, um dich voran zu bringen, es sei denn, er hindert dich am
Schreiben, es sei denn, er ist eine jammernde Version von Linda Ronstadt's Song
"You're no good". In seinem Buch "Sturz in die Nacht" schreibt der Autor William 
Styron, wie er in Paris eine bedeutende literarische Auszeichnung erhält (den 
internationalen Preis "Cino Del Duca") und danach nicht nur den Scheck über das
Preisgeld verliert, sondern auch fast überwältigende Gefühle von Selbstzweifel
entwickelt. Ungeachtet aller lobenden Besprechungen ihres ersten Romans 
"A bigamist's daughter" hat die "National-Book-Award-Gewinnerin" Alice McDermott
noch immer solche Selbstzweifel, dass sie zunächst aufhört zu schreiben, um Jura
zu studieren.
Der Kritiker ist manchmal personifiziert als ein boshafter Deutschlehrer am
Gymnasium, der unsere Kreativität mit hartherzigem Bestehen auf Regeln und
Grammatik stranguliert und so die Fähigkeit der Schüler, loszulassen und Spaß
an originellen Ideen zu haben, unterminiert. Er meint es nur gut und will
uns auf die Sprünge helfen, aber leider ruiniert er unsere Phantasie.
Aber aus einem bestimmten Grund hat diese Charakterisierung einen schlechten
Beigeschmack, denn die Mehrzahl der Deutschlehrer würde ekstatische Tränen 
weinen, wenn ein Schüler auch nur die Andeutung einer solchen Originalität 
zeigen würde.
Der Kritiker ist tatsächlich in uns. Wir haben vielleicht seine Stimme 
absorbiert von den Eltern oder den Lehrern oder erschufen die Stimme aus
unserer mythischen Vorstellung eines Herausgebers, der unsere schwachen
Versuche, eine bedeutungsvolle Geschichte zu schreiben, mit Genuss
verspottet. In jedem Fall ist die Stimme des Kritikers 
unsere eigene Stimme. Wenn wir die Lektionen unseres Deutschlehrers
verinnerlicht haben, mögen wir uns vielleicht sicherer fühlen. Aber der
Kritiker wird weiterhin ein furchterregender Widersacher bleiben, über
den wir uns beklagen werden. Sogar auf deinem Flug nach Stockholm, um dort den
Nobelpreis für Literatur entgegen zu nehmen, nachdem du die Bevorzugung und
Bewunderung vieler Leser überall bekommen hast, wird die Stimme noch da sein.
Veröffentlichungen und Lob helfen natürlich, kein Zweifel. Wenn du das Schreiben
praktizierst, wirst du Vertrauen gewinnen. Erlaube dir zu experimentieren und
sogar Risiken einzugehen, bei denen du dich unter dem Blick des Kritikers dumm
und unsicher fühlst. Das wirkliche Wachstum findet nur im eigenen Inneren
statt, dort, wo der Kritiker residiert. Im Laufe der Jahre wirst du mehr
Vertrauen entwickeln und zufriedener mit dir sein.
Wenn du die Stimme des Kritikers hörst, die dir sagt, deine Idee sei dumm,
deine Texte langweilig und ohne Schwung, dann bedenke auch, dass er vielleicht
Recht hat. Er wird auch zu seinem Recht kommen, aber nicht jetzt!
Der erste Entwurf ist nicht der Platz für den Kritiker. Wenn er darauf besteht,
sich einzumischen, versuche nicht, direkt mit ihm zu kämpfen. Argumentiere nicht
mit ihm. Beobachte stattdessen seine Stimme, benenne sie als "Der Kritiker" und
lass ihn dann gehen. Du wirst irgendwie weiterschreiben, gerade so, als hättest du
die störenden Kinder vor den Fernseher geschickt, wo sie nun brutal um die
Fernbedienung kämpfen. Zuhören und gehen lassen ist der Prozess, der in der Meditation
benutzt wird, um den Verstand, den denkenden Geist, loszulassen. Der Meditierende weiß,
dass Gedanken in das Bewusstsein eintreten werden. Wenn das geschieht, sagt er zu
sich selbst "Gedanken" und lässt die Gedanken gehen, ohne sie als gut oder schlecht
zu bewerten und ohne sich selbst als schwach oder zerstreut zu bewerten. Mach den
Kritiker nicht zu einem Zankteufel mit engen Pupillen und einem roten Stift in der
Hand. Der Kritiker ist eine notwendige Stimme, manchmal. Wenn du als Autor dein
Handwerkszeug weiter entwickelst, wirst du eine Ästhetik entwickeln, ein Kriterium, 
an dem du starkes von schwachem Schreiben unterscheiden kannst. Mit diesem
Wachstum wirst du ein noch nützlicherer Leser deiner Texte und auch Arbeiten von
anderen Autoren differenzierter betrachten können. Dabei kann der Kritiker sehr
hilfreich sein. Widerstehe daher dem Bedürfnis, den Kritiker zu bewerten. Es
kann in einer frühen Phase der Arbeit an einem Text besser sein, den Kritiker
ins Kino oder auf eine Wanderschaft zu schicken oder einfach ins Nebenzimmer,
wo er die Wäsche falten kann. Wahrscheinlich steckt er ab und zu den Kopf
herein und fragt: "Bist du jetzt bereit für mich?". Antworte dann mit der
freundlichsten Stimme, die du aufbieten kannst: "Jetzt noch nicht!"