Corona-Selbsthilfegruppe

Frau Schwätzig rannte zu dem einzigen freien Stuhl und setzte
sich. Ihr war bewusst, dass sie zu spät war, und darum wollte
sie keine Zeit verlieren.
"Guten Tag, meine Damen und Herren!"
Sie sah die Menschen, die im Stuhlkreis saßen, aufmerksam an, 
wie sie es in der Fortbildung gelernt hatte.
Dabei spielte ein ermutigendes Lächeln um ihre Lippen.
"Ich heiße Sie herzlich willkommen in dieser Selbsthilfegruppe 
für Corona-geschädigte Personen."
Die Pause danach war wichtig, damit allen bewusst wurde, wo
sie sich hier befanden.
"Wenn ich mal..." sagte der Mann mit der Hornbrille.
"Um einen Überblick über Ihre gegenwärtige Bedürfnislage zu
bekommen, bitte ich Sie um ein kurzes Blitzlicht!"
Frau Schwätzig ließ sich nicht stören.
"Blitzlicht?" fragte Herr Panzer, der Mann im blauen Adidas-
Trainingsanzug, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte. 
"Nun ja." sagte Frau Schwätzig und räusperte sich.
"Ein kurzer Satz über Ihre momentane Befindlichkeit!"
"Sie wollen etwas über meine momentane Befindlichkeit wissen?"
"Ja." Frau Schwätzig nickte. "Das wäre begrüßenswert."
Herr Panzer schob sein Kinn nach vorne.
"Wieso ist meine momentane Befindlichkeit begrüßenswert?"
fragte er mit zunehmend lauter werdender Stimme.
"Meine Befindlichkeit ist überhaupt nicht begrüßenswert. Sie
ist, im Gegenteil, außerordentlich beschissen, wenn Sie es genau 
wissen wollen. Ich habe durch Corona meine Arbeit verloren und
dann..."
"Ich hatte nicht die Absicht, gleich zu Beginn so tief in die
Problematik einzusteigen." unterbrach Frau Schwätzig ihn.
"Ich wollte nur einen kurzen Einblick in den Gemütszustand
meiner GruppenteilnehmerInnen bekommen."
Dabei machte sei eine öffnende Bewegung mit ihren Armen,
wie sie es geübt hatte.
"Wenn Sie, Frau Pfeifer, vielleicht mit dem Blitzlicht weiter 
machen wollen."
Frau Pfeifer begann zu weinen.
"Aber warum weinen Sie denn?" Frau Schwätzig faltete die Hände
in ihrem Schoß. "Es besteht überhaupt kein Grund, in Tränen
auszubrechen. Wir haben doch gerade erst mit der Sitzung
begonnen!"
Herr Niederfalter, der mit der Hornbrille, streckte seinen Arm 
in die Luft und hielt den Zeigefinger nach oben gestreckt. 
"Also wenn ich mal etwas sagen dürfte!"
"Aber natürlich dürfen Sie etwas sagen, Herr Niederfalter."
sagte Frau Schwätzig. 
Den Namen las sie vom Namensschild auf seiner Jacke ab.
"Ich weiß überhaupt nicht, wie Sie darauf kommen, dass hier 
irgend etwas nicht gesagt werden dürfte! Ganz im Gegenteil 
besteht ja der Sinn unseres Beisammenseins gerade darin, 
dass Sie hier äußern können, was Sie sonst nirgends äußern
dürfen! Es handelt sich um eine Katharsis, damit es Ihnen 
hinterher besser geht als zuvor!"
"Und warum durfte ich vorhin nicht sprechen?"
Herr Panzer stellte sich hin und zeigte auf Frau Schwätzig.
Frau Pfeifer strich sich die Tränen aus dem Gesicht und weinte
in ein Papiertaschentuch.
Herr Niederfalter flüsterte:" Wenn ich mal etwas sagen dürfte!"
"Aber natürlich dürfen Sie etwas sagen, verdammt noch mal!"
schrie Frau Schwätzig und stampfte mit den Füßen.
"Dann reden Sie doch endlich!"
"Sie sind in der falschen Gruppe! Sie haben die Leitung für die
Gruppe II der Corona-geschädigten Personen. Das ist im Nebenraum."
"Sie meinen, ich leite diese Gruppe gar nicht?" Frau Schwätzig 
beruhigte sich. "Aber es gibt doch für diese Gruppe hier gar
keine Leitung, so weit ich sehe!"
"Das hier ist die Gruppe I für Corona-geschädigte Personen. Und 
diese Gruppe wird von mir geleitet. Also wurde geleitet, bis
Sie den Raum betraten."
"Und da halten Sie es nicht für nötig, mir zu sagen, dass ich auf
dem falschen Dampfer bin?" Frau Schwätzig stemmte die Fäuste in ihre
Taille. "Sie sind mir ja ein schönes Früchtchen!"
Dann lächelte sie noch einmal in den Kreis und verschwand im
Nebenraum.
   
   
 
Veröffentlicht in Über das Schreiben.