Der Richter



Der Richter

Dieser Gegner ist tief in dir verankert und tarnt sich
als schlechtes Gewissen. Er zeigt mit dem Finger auf dich,
hat herabgezogene Mundwinkel und ist vollkommen davon überzeugt,
immer im Recht zu sein. Sein grimmiges Gesicht verrät den
altmodischen Moralisten, der immer zur Stelle ist, wenn es
gilt, über falsch und richtig zu urteilen.
Er taucht auf, wenn wir uns schuldig fühlen, weil wir schreiben. 
Würden wir unserer Familie nicht besser dienen, wenn wir bei ihnen
wären, anstatt uns hinter einer Türe mit "Bitte nicht stören!" zu
verbarrikadieren, um Eindringlinge abzuhalten? Unsere Liebsten würden
bestimmt dankbar sein, würden wir unseren Kopf nicht frühmorgens vom 
Kissen erheben, um zu schreiben, sondern bei ihnen blieben! 
Sollten wir nicht um Himmels willen besser:
- den Garten harken
- mit den Kindern spielen
- das Geschirr spülen
- Geld verdienen
und - Rechnungen bezahlen?
Wie selbstsüchtig von uns, diese Zeit zu nehmen, um den Phantasien über
zu schreibende Geschichten nachzuhängen. Wie dumm von uns, an einer neuen
Version unserer Memoiren zu arbeiten und in Ereignissen herumzuwühlen, die
zwanzig Jahre zuvor geschehen sind. 
Das ist die Stimme des Richters. Seine Waffe sind unsere 
Schuldgefühle und es ist wichtig, zwischen Schuld und Schuldgefühl
zu unterscheiden. Das Schuldgefühl vermittelt uns den Eindruck, schuldig
zu sein, obwohl wir es nicht sind. Die Schuld ist die reale Erkenntnis,
etwas falsch gemacht zu haben.
Besonders Frauen scheinen oft mit dem Richter zu diskutieren. In unserer
Gesellschaft sind Frauen mehr als Männer aufgefordert, ihre Bedürfnisse zu
ignorieren und sich selbst den Bedürfnissen der Familie unterzuordnen. Und
Familien erwarten dieses Verhalten. Wenn du als Frau deine Familie um eine
freie Stunde am Abend bittest, wirst du erkennen, dass sie versuchen werden,
deinen Ausbruch zu verhindern, und du mehr Problemem lösen musst, als
wenn du einfach mit ihnen vor dem Fernseher sitzen würdest. Selbst dann,
wenn du die Zeit bekommst, nach der du gefragt hast, wird die Stimme des
Richters in deinem Kopf zu sprechen beginnen. Sogar, wenn du erfolgreich
Bücher veröffentlicht hast, wirst du die Stimme hören und denken, dass deine
Familie erleichtert sein würde, wenn du mit dem Schreiben aufhörst. Du wirst mit 
den Fragen kämpfen: "Bin ich zu selbstsüchtig? Ist es hart für meinen Partner und
meine Kinder? Lohnt sich das alles?" Du wurdest programmiert, selbstlos zu
sein und wirst dich mit diesen Gedanken beschäftigen müssen.
Auch Männer leiden unter dem Plagegeist des Richters. Wir fühlen, wir sollten
draussen sein, um Brot zu verdienen, die Jagdbeute nach Hause zu bringen oder Zeit 
mit dem Partner und den Kindern zu verbringen. Unsere Väter und Großväter hätten sich 
niemals mit einem narzisstischen Geschichtenprojekt beschäftigt, wenn das Gras gemäht
werden müsste oder man die Garage streichen könnte. Ein Mann, der das Bedürfnis hat,
Kunst zu Lasten der geliebten Nächsten zu erschaffen, ist ein Verlierer.
Natürlich haben die Zeiten sich geändert und ich hoffe, die Dinge sind in deiner Welt
nicht mehr ganz so streng organisiert und altmodisch. Aber das Schuldgefühl des
Autors ist ein heimtückischer Feind, der schwer zu schlagen ist. Es hat sein Feldlager
hinter befahnten Zäunen auf hohem moralischem Grund aufgeschlagen und katapultiert
Bewertungen über unser Handeln wie Raketen in unseren Geist.
Um den Boden in deinem Denken zurückzugewinnen, musst du dich fragen, warum du
mehr Zeit mit dem Schreiben verbringen willst als mit deiner Familie, deinen
Freunden oder anderen Dingen, die auf deiner To-Do-Liste winken.
Ist es wegen deiner nicht sterbenden Hoffnung auf Ruhm und Glück?
Sinnst du auf Rache an deinem Deutschlehrer, der behauptet hat, 
aus dir würde niemals ein Schriftsteller werden?
Ist es deine Absicht, das Schreiben als Schutzschild zu benutzen, 
um dich vor Aufgaben zu drücken, für die du verantwortlich bist?
Ich hoffe, dass deine Motivation eine andere ist.
Wenn du aus dem Bedürfnis heraus schreibst, zu kommunizieren und deine
eigene Stimme auf dem Papier zu hören, dann bist du es dir selbst und deiner 
Familie schuldig zu schreiben. Du hast das moralische Gebot es zu tun.
Versuche, dieses Gebot zu ignorieren, und du wirst Opfer des jammernden
Saukerls, der gerne schreiben würde, wenn die Welt ein verständnisvollerer
Platz wäre. Um der beste Vater/ Ehemann/ Sohn/ Bruder/ Freund/ Liebhaber,
die beste Mutter/ Ehefrau/ Tochter/ Freundin/ Geliebte zu sein, musst du ein
Ventil finden für dein starkes Bedürfnis nach Kreativität. Sogar, wenn niemand
um dich herum dein Bedürfnis teilt, sollten sie fähig sein, es zu verstehen.
Dir kreative Zeit zu stehlen, erfordert natürlich einige Opfer:
- früher aufzustehen     
- die Zeit enger zu planen
- einige Verpflichtungen an Familienangehörige zu delegieren
Kannst du das tun und mit reinem Gewissen weiterschreiben? Für die meisten Leute
ist das möglich. Aber jene, die mit einem besonders schlechten Gewissen
gesegnet oder geschlagen sind, mögen Probleme mit diesem Feind der
Kreativität bekommen. Ich könnte selbst einer aus dieser Gruppe sein und habe
immer die Leute bewundert, die das Schreiben an die erste Stelle setzten und
ihr Leben dementsprechend lebten. Ich erinnere mich, in dem Buch von John Gardner 
"On Becoming a Novelist" gelesen zu haben, in dem er in der Tat sagt: 
"Benutze die Leute um dich herum. Zehre von deinen Liebhabern. Akzeptiere Geld
von deinen Eltern. Suche dir keinen Job, sondern schreibe, schreibe, schreibe!" 
Für einige klappt das. Bücher werden auf diese Weise geschrieben. Nutze Gardners 
Ratschlag und triff deine eigene Wahl. Mein Rat geht dahin, eine Balance zu finden
zwischen den Bedürfnissen der anderen und den Bedürfnissen und Erfordernissen
deines kreativen Lebens. Arbeite daran, die beiden Seiten nicht als kriegführende
Truppen zu sehen, sondern als zwei Schlüsselelemente, die eine einzigartige 
Persönlichkeit ausmachen. Wenn der Richter im Hintergrund sein tyrannisches Haupt 
erhebt, dann traue dem nicht, was er sagt. Bestehe auf deinem Bedürfnis
nach Schreibzeit. Nun schreibe darüber.
*
Impuls:
Schreibe über dein Bedürfnis, ein kreatives Leben zu führen, oder einfach über dein
Bedürfnis zu schreiben. Warum tust du es? Welche Bedürfnisse werden dadurch befriedigt?
Nenne deinen Aufsatz:"Warum ich schreibe!" Beispiele dafür kannst du in der Anthologie
"Why I write" von Will Blythe finden, in dem bekannte Autoren ihr Bedürfnis zu schreiben
erforschen. Sei in deinem Aufsatz ehrlich und genau. Versuche, ein besseres Verständnis
für deinen Impuls, zu schreiben, zu bekommen. Benutze das neu gewonnene Verständnis, um
dem Richter und den anderen Feinden zu erklären, warum du schreiben musst, sogar wenn du
von Blockaden und Schuldgefühlen gehindert wirst oder hundert andere coole Dinge, dich
locken, die du tun könntest.
Das folgende Zitat ist der weiter oben genannten Anthologie entnommen und gehört zu dem
Aufsatz:"Everything else false away" von Lee Smith, in dem er eine Anzahl von Gründen
schildert, warum erschreibt, aber dieser eine Grund steht im Mittelpunkt:
"Für mich ist Schreiben eine physische Freude. Es ist beinahe sexuell - nicht der Moment
der Erfüllung, aber der Moment, wenn du die Türe zu dem Raum öffnest, in dem die geliebte
Person auf dich wartet - und alles andere fällt weg. Für die Zeit des Schreibens bin
ich ein niemand, wirklich niemand. Ich bin ein Vulkanschlot oder eine Wasserleitung,
nichts als ein Weg, den die Geschichte braucht, um auf die Seite zu kommen. Wenn es so ist,
fühle ich mich unglaublich lebendig, alle Sinne sind geschärft und ich beginne zu zittern   

 

Veröffentlicht in Über das Schreiben.