Die Schwätzeritis

Wenn der Virus dich befallen hat, der die Schwätzertis auslöst, kannst du den 
Mund nicht halten. Du redest gerne über das Schreiben und hast eine großartige 
Idee für ein Drehbuch oder einen Aufsatz im Kopf. Vielleicht hast du auch eine
Offenbarung über deinen Protagonisten, die deiner Geschichte  die dringend 
benötigte neue Wendung gibt. Wenn der Schwätzer die Kontrolle übernimmt, muss
er es jedem in der Schreibgruppe erzählen. Er muss es seinem Partner, seiner 
Mutter und jedem auf der Arbeit mitteilen, egal, ob sie es hören wollen oder
nicht. Der Schwätzer ist ein Experte darin, Worte zu verschwenden und Ideen
zu vergeuden, die du eigentlich behüten solltest.
Wenn du dich hinsetzt, um die Idee umzusetzen, ist sie schon tot oder nicht 
mehr so interessant und würzig, wie es ein paar Tage zuvor den Anschein hatte.
Der Schwätzer benötigt Aufmerksamkeit. Er ist auf der Suche nach Bestätigung
und redet lieber über die Ideen, als sich mit ihrer Komplexität und ihren
Hindernissen auseinanderzusetzen. Der Schwätzer will den Ruhm, aber nicht
die harte Arbeit, die im Herzen eines jeden kreativen Erfolges liegt. Er
ist ein Feigling, ein Angsthase, ein Schaumschläger und Narzisst. Wenn 
du eine Idee zu ihrem vollen Potential entwickeln willst und eine Arbeit 
bis zu ihrer Fertigstellung bringen möchtest, hüte dich vor dem Schwätzer!   
Wann immer du das Gefühl hast, du müsstest über das reden, was du gerade
schreibst, rate ich dir: "Halte den Mund!" Wirklich. Die Geschichte, die du
schreibst, ist ein Geheimnis. Du wirst die Idee verlieren, wenn du darüber 
sprichst. Die Schriftstellerin Ann Tyler schreibt dazu:"Wenn sie über ihre
Plot-Ideen sprechen, fühle ich, wie die Idee verdampft. Es macht mich so 
verlegen, dass ich ihnen am liebsten den Mund zuhalten würde."
Schreiben ist eine private Handlung. Es ist ein Weg, sich vertraulich
mit unserem Unterbewusstsein, unseren Phantasien, unserem geheimen Leben
zu unterhalten. Eine dritte Person mit einzubeziehen ist fast immer eine
schlechte Idee. Der Sinn für Intimität und Offenbarung geht verloren. Es
endet damit, dass du Small Talk machst. Indem du die Privatheit des kreativen
Prozesses beschützt, schützt du das Erregende dieser Intimität.  
Die Intimität zurück zu bekommen, ist eine schuldbeladene Freude und sie hält
die Spannung hoch. Ideen werden neue Ideen erzeugen und du findest dich selbst
und dein Projekt den richtigen Weg entlang rollen.
Der Autor Jay McInerney beschreibt diesen Weg so:
"Ich finde, es hilft, mich selbst so weit wie möglich von der Welt des täglichen
Lebens zu entfernen. Wenn man in New York lebt, ist es schwierig, den Lärm der
Stadt auszublenden. Darum gehe ich weg. Ich versuche, irgendwo ein Baumhaus
zu finden und die Leiter hinter mir hochzuziehen. Einst habe ich begonnen,
an ein alternatives, erfundenes Universum zu glauben. Ich kann es vom Baumhaus
aus betreten und verlassen. Aber es ist am Anfang ein zerbrechlicher Status."
Einige Autoren glauben, dass es Unglück bringt, über ein laufendes Projekt zu 
sprechen. Eine Autorin arbeitete schon monatelang an einer Novelle und weigerte
sich sogar, über das Projekt als von einer Novelle zu sprechen. Sie nannte es
nur "dieses Ding, an dem ich arbeite", bis sie es nach mehr als einem Jahr
beendete. Sie achtete darauf, dass der Schwätzer nicht mal einen Fuß in die
Tür bekam.
Der Schwätzer lässt den Dampf aus deiner Arbeit heraus, macht sie ärmer und
uninteressant. Deine wie Diamanten funkelnden Ideen verlieren ihren Glanz
und sind für immer verloren. Lass das nicht geschehen.

Impuls:
Erinnere dich an Schreibprojekte, die am Anfang großartig waren, aber dann abgewürgt
wurden und unvollendet blieben. Hast du über sie gesprochen? Wenn du an einer
Idee oder einer Geschichte arbeitest und das Bedürfnis hast, mit jemandem darüber
zu reden, denke daran, dass es besser ist, still zu sein. Nimm dir vor, erst nach
der nächsten Szene darüber zu sprechen. Versuche dann, noch eine weitere Szene
lang zu warten.
Veröffentlicht in Über das Schreiben.