Maus kommt raus

Maus kommt raus

Maus lag in ihrer Höhle und versuchte, den Hunger durch Schlaf zu besiegen. Aber ihr Magen knurrte so laut, dass sie nicht einschlafen konnte. Darum machte sie sich auf die Suche nach Futter. Eigentlich war ihr klar, dass sie keine Chance hatte, etwas Fressbares zu finden. Es war Winter. Die Felder waren abgeräumt und unter den stehengebliebenen Halmen war alles wie leergefegt. Das graue Fell von Maus schlackerte um ihre Knochen, als sie die Höhle verließ und den Weg zur Burgruine nahm. Früher hatten dort manchmal Wanderer eine Pause eingelegt und Reste ihres Proviants fallen gelassen. Aber seit sich eine ungewöhnlich ansteckende Seuche unter den Menschen ausgebreitet hatte, war hier niemand mehr zu sehen. Maus krabbelte die verfallenen Treppen zur Ruine hinauf und balancierte über zerbröckelnde, alte Mauerreste. Sie schnupperte an dem Mörtel, der aus der Mauer gefallen war. Aber die grauen Brocken rochen ekelhaft und hatten sicher auch keinen Nährwert. Maus fühlte sich elend. Vor lauter Verzweiflung hatte sie schon versucht, in ihr zartes rosa Schwänzchen zu beißen. Aber es war einfach zu schmerzhaft, sich selbst zu verspeisen. Maus ließ sich ohne ein besonderes Ziel treiben. Nur von der Hoffnung getrieben, vielleicht doch etwas Futter zu finden, kletterte sie auf verschiedenen Mauerstücken herum. Dabei erreichte sie höher gelegene Wände der ehemaligen Burg und erspähte plötzlich, o Wunder, mit ihren scharfen Augen auf der oberen Kante eines weiter entfernten Mauervorsprungs einige Samenkörner. Der Wind musste den Weizen hinauf geweht haben. Maus lief das Wasser im Mund zusammen und sie versuchte, auf dem sichersten Weg zu den Körnern zu gelangen. Doch immer wieder versperrten ihr unregelmäßig geformten Vorsprünge den Weg. Sie musste einen Weg einschlagen, der schwieriger zu passieren war. Mutig krallte sich mit ihren hellroten Pfoten an der Kante einer ehemaligen Fensterbank fest und hangelte sich rüber auf die andere Seite. Einige Male wäre sie fast in die Tiefe gestürzt. Ein starker Wind strich durch ihre Barthärchen und wehte durch ihr zotteliges Fell. Fast auf der anderen Seite angekommen, gaben abziehende Wolken den Weg für Sonnenstrahlen frei, die ein Licht auf die Weizenkörner warfen, die gerade von einer Meise verspeist wurden. Die Meise flog davon und ließen eine verzweifelte Maus zurück. Die Lage war hoffnungslos. Maus ließ sich fallen und hoffte, dass der Sturz ihrem Leben ein Ende setzen und sie von ihrer Qual erlösen würde.

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Eule kroch aus ihrer Baumhöhle und plusterte ihr Gefieder auf, um sich aufzuwärmen. Der eisige Wind biss in ihre Federn. Darum beschloss sie, sich durch einen Flug zur Burgruine aufzuwärmen. Die Bewegung würde ihr gut tun. Sie stieß sich von dem Ast ab, auf dem sie gehockt hatte, brachte Luft unter ihre Flügel und flatterte los. Doch kaum hatte sie begonnen, ihre Flügel im Luftstrom auszubreiten und loszusegeln, prallte sie gegen einen anderen Ast, den sie übersehen hatte. Einige Flügelschläge lang taumelte sie durch die Luft und erinnerte sich daran, dass die Sehkraft ihrer Augen nicht mehr so wie früher war. Der Uhu, den sie in schwierigen Lebenslagen als Ratgeber aufzusuchen pflegte, hatte sie darauf hingewiesen, dass es zu solchen Zusammenstößen kommen würde. Und in der Tat musste Eule in letzter Zeit immer öfter solche kleinen Unfälle erleiden. Eigentlich war das auch nicht verwunderlich, da sie schon mehr als zwölf Jahre Lebenserfahrung auf ihrem mit Federn bedeckten Buckel herumzutragen hatte. Aber niemand findet sich gerne mit den Nachteilen eines älter werdenden Körpers ab, und so verschloss auch Eule gerne die Augen vor der Realität. Durch einige zunächst hektische, dann aber wieder geordnete Flügelschläge fand sie ihr Gleichgewicht wieder und flog dann weiter zur Burgruine. Während des Fluges schwirrte ihr das eine und andere Insekt in den Schnabel. Eule schlang es dankbar hinab, aber eigentlich war sie ganz andere Nahrung gewohnt und dachte: “Wenn ich nur wieder etwas Fleisch in den Magen bekommen könnte!” Und in diesem Augenblick sah Eule, von dem plötzlich vom Himmel herab strahlenden Sonnenlicht beleuchtet, eine Meise, die etwas aufzupicken schien, und eine Maus, die sich in Richtung der Meise an einem Mauervorsprung entlanghangelte. Das Gehirn von Eule berechnete, dass es größere Chancen gab, die Maus zu erwischen als die Meise. Sie fokussierte sich auf die Maus und beobachtete, wie diese plötzlich begann, in die Tiefe zu stürzen. Das Gehirn von Eule schätzte die Fallgeschwindigkeit der Maus und berechnete in sekundenschnelle, wie Eule ihre Flugrichtung ändern musste, um die Maus zu packen. Maus fiel. Eule flog. Der Flugwind wirbelte ihre Federn durcheinander. Eule spreizte die Krallen, um die Maus zu ergreifen. Maus hatte die Augen geschlossen und bemerkte nichts von der nahenden Gefahr. Es wäre ihr auch egal gewesen, denn schließlich glaubte sie, ihr Leben sei zu Ende. Doch das Gehirn von Eule hatte ihre schlechten Augen bei der Schätzung der Flugroute nicht mit eingerechnet. So kam es, dass Eule die Maus nicht mit ihren Krallen greifen konnte, sondern dass Maus auf dem Rücken der Eule landete, wo Eule sie weder mit ihrem Schnabel, noch mit ihren Krallen erreichen konnte. Maus spürte das Gefieder der Eule plötzlich unter sich wie eine weiche Matratze. Sie öffnete die Augen und dachte:” Ein Wunder ist geschehen! Die Königin der Mäuse, Mutter alles Lebendigen, hat mir das Leben gerettet!”, denn sie war eine fromme Maus.

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Während Eule weiterflog, versuchte sie, die Maus mit ihrem Schnabel zu erwischen. Maus, deren Lebenswille durch die spirituelle Erfahrung, die sie gerade gemacht zu haben glaubte, wieder erwachte, wich den Schnabelhieben aus, sprang nach rechts, rollte nach links, sich immer an die flauschigen Federn klammernd, die im Flugwind wehten. Eule beschloss, in ihre Baumhöhle zurück zu fliegen und der Maus dort den Garaus zu machen. Sie breitete ihre Flügel aus und drehte sich in der Luft weg von der Burgruine, hin zu dem Wald, in dem der Baum mit ihrer Höhle stand. Maus war noch nie in ihrem Leben geflogen. Es war ein wunderbares Gefühl, den Wald von oben zu sehen, in das Blättermeer einzutauchen und an den Ästen und Zweigen vorbei zu schweben. Maus vergaß ihren Hunger. Noch immer im Rausch des Glaubens, dass eine höhere Macht sie gerettet hatte, hoffte sie, dass die Königin der Mäuse sie auch weiterhin beschützen würde. So hielt sie sich, von dem neu in ihrem Bewusstsein aufgetauchten Lebenswillen gesteuert, am Rücken der Eule fest, als diese auf einem Baum landete und sich anschickte, in ihre Höhle zu kriechen.

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Maus duckte sich unter dem Eingang der Baumhöhle weg und spürte, wie die Eule sie gegen die Höhlenwand drücken wollte. Sie rutschte am Rücken der Eule herunter und versuchte, den nach ihr greifenden Krallen der Eule auszuweichen. Ihren Kopf in alle Richtungen drehend, teilte Eule Schnabelhiebe aus und versuchte, die Maus zu treffen. Maus sprang von rechts nach links, von vorne nach hinten und konnte immer so gerade eben jedem Hieb entkommen, da die Eule zwar einen Heimvorteil hatte, aber wegen des Handicaps ihrer schlechten Augen im Nachteil war. Maus rannte zwischen den Beinen der Eule durch und machte einen kleinen Sprung in die Luft, bei der sie den Unterleib der Eule berührte. Und nun geschah etwas Seltsames. So, als hätte Maus einen Knopf im Unterleib der Eule gedrückt, plusterte diese ihr Becken auf und schob es über die Maus. Einen Augenblick lang glaubte Maus, die Eule wolle sie zerquetschen. Aber nein. Eule legte ihre Federn so weich um die Maus herum, als wenn sie Maus beschützen wollte. Ohne es zu wissen, hatte Maus die Kloake am Körper der Eule berührt, die Öffnung, durch die ein fertig entwickeltes Ei aus dem Eulenkörper herausgepresst wird. Maus hatte durch ihren Sprung und die dem Sprung folgende Berührung der Kloake im Nervensystem von Eule ein genetisches Programm ausgelöst, welches nun begann, das Verhalten von Eule zu steuern. Als der Uhu später davon erfuhr, schrieb er ein Buch und hielt Vorträge darüber, wie Eulenvögel von diesen Triggern genannten Programmen im Erbgut manipuliert werden. „Sie beginnen, Dinge zu tun, als würden sie unter Hypnose stehen.“ schrieb er an einer Stelle und dokumentierte als Beispiel die Geschichte der Eule. Aber davon soll an anderer Stelle die Rede sein. Hier genügt es zu erwähnen, dass Eule sich in diesem unvergleichlichen Dilemma befand, weil sie ein Waldkauz im Körper einer Käuzin war. Man stelle sich das vor: Ein Kauz im Körper einer Käuzin, der keine Ahnung davon hat, wie der Körper einer Käuzin funktioniert. Und nun das. Ein genetisches Programm, das der Eule Verhaltensweisen aufzwingt, die sie selber nicht versteht.

Eule bemerkte zwar, dass ihr Verhalten auf einmal nicht mit dem zusammenpasste, was gerade geschah, aber sie war nicht in der Lage, ihre Reaktion auf dieses merkwürdige und seltsame Ereignis zu verändern. Sie sah die Welt plötzlich so, als wären in einer Diashow zwei verschiedenen Bilder übereinander gerutscht, die ihr nun ein völlig verzerrtes Bild der Wirklichkeit vorgaukelten, in dem sie weder das eine noch das andere Bild klar erkennen konnte. Sie erinnerte sich vage daran, dass der Uhu mal einen Vortrag über eine dissoziative Störung gehalten hatte. Aber die Erinnerung daran war nur ein schwaches Echo in ihrem Gedächtnis und half ihr nicht, sich anders zu verhalten als sie es gerade tat.

Immerhin hatte sie schon 12 Jahre lang darauf gewartet, ein Ei zu legen und es auszubrüten. Aber ihr war nie ein Kauz begegnet, der ihr Avancen gemacht und sie befruchtet hätte, um auf diese Weise eine Eiproduktion anzuregen. Doch die Berührung von Maus hatte Instinkte in der Eule geweckt, die in den Tiefen ihres Nervensystems versteckt gewesen waren. Mit der einen Hälfte ihres Bewusstseins glaubte Eule, die Maus sei ein Ei, das sie soeben selbst gelegt hätte, und begann, vom plötzlich geweckten Mutterinstinkt angetrieben, die Maus zu wärmen und zu bebrüten, wie sie es mit einem Ei gemacht hätte. Mit der anderen Hälfte ihres Bewusstseins beobachtete Eule kopfschüttelnd ihr Verhalten, denn sie sah natürlich, dass das Ei kein Ei war sondern eine Maus.

Maus war zunächst von dem Verhalten der Eule irritiert, doch dann spürte die wohlwollende Absicht des auf ihr ruhenden Federkleides, rollte sich auf die Seite und schloss die Augen.

Veröffentlicht in Geschichten erfinden.