Die schöpferische Kraft des Schweigens

Die schöpferische Kraft des Schweigens
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Ein Samenkorn liegt still im Schoß der Mutter Erde,
nimmt Nahrung auf und andere Segnungen der Natur, bis
sich seine Seele auftut und in Blüten ausbricht.
Der Geist des schöpferischen Menschen, gespeist 
aus der Tiefe ruhender Kontemplation, wartet geduldig
auf die ihm vorbestimmte Stunde des Erwachens. 
Das Schweigen, die große unsichtbare Kraft, das
Wunder des Lebens, wirkt auf unseren Charakter in
gegensätzlicher Weise. Zuweilen überwältigt es uns 
mit seiner drückenden Stille und dann wieder berührt 
es unser Herz wie ein Schauer erfrischender Regentropfen 
an einem schwülen Sommertag.
Wie oft wirkt das Schweigen als kräftespendendes Mittel
belebend auf unseren matten Geist. Mitunter aber wirkt es 
wie eine Narkose und versetzt unsere Lebensenergie in einen
Zustand krankhaften Schlafes. Alle großen Kräfte der Natur üben
gegensätzliche Wirkungen aus.
In der Welt der Religion und Philosophie spielt die Praxis des
Schweigens eine sehr wesentliche Rolle. Es schafft eine
Atmosphäre, die dem Suchenden Zugang gewährt zu einem inneren
Heiligtum, einer tief verborgenen Zuflucht vor der rastlosen
und unruhigen materiellen Welt. So oft wir schöner Musik lauschen,
fühlen wir uns gestört und abgelenkt, wenn jemand spricht oder 
Lärm macht, und es mag geschehen, dass uns die bezaubernde Schönheit
der Musik verloren geht.
Ähnlich ist es bei spirituellen Übungen; wenn unsere Aufmerksamkeit
abgelenkt wird, haben wir wenig oder keinen Gewinn davon. Aus
diesem Grund verteidigen viele der großen Schulen des Denkens streng
die Forderung vollkommenen Schweigens vor der spirituellen Übung. 
Der technische Grund ist leicht einzusehen: Das Schweigen hilft uns
beim Vollziehen der Konzentration. Seine tiefere Bedeutung aber liegt
in der Entfaltung unserer höheren Natur. Selbst heute begegnet es uns noch,
dass viele Gotteshäuser nur in strengem Schweigen besucht werden dürfen, um
die notwendige Atmosphäre für Andacht und Gebet zu schaffen. Wir können
niemals die Sprache der Seele wahrnehmen, wenn unsere Ohren vom lauten Lärm 
der Welt erfüllt sind. Einer der Sufi-Mystiker bringt diese Erfahrung sehr 
schön zum Ausdruck:"Schweige still, damit der Herr, der dir die Sprache gab,
reden kann; denn da er Tor und Schloß formte, hat er auch den Schlüssel gemacht.
.......Ich schweige. Rede du, o Seele der Seele aller Seelen."
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