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Therapie
Frau Sonder nickte zögernd. Pero 
schob seinen Stuhl zurück, schuf 
mehr Abstand zwischen ihnen und 
ließ den Blick auf ihrer Schulter 
ruhen. „Da ist ein dunkler 
Schatten über Ihrer linken 
Schulter“, sagte er leise. 
„Können Sie sich vorstellen, dass 
er wirklich dort ist?“ Ein 
Schauer lief ihr über den Rücken. 
Plötzlich sah sie sich selbst 
von außen, als stünde sie neben 
sich. Über ihrer Schulter 
– etwas Dunkles, formlos, schwer. 
War das Einbildung? Oder spielte 
ihr der Therapeut etwas vor?
„Ich sehe etwas, das Ihre 
Schulter nach unten drückt“, 
fuhr Pero fort. „Wie ein schwerer 
Stein, der Ihnen die Kraft nimmt. 
Wenn Sie nichts tun, wird er Sie 
zermalmen.“ Ihre Atmung 
beschleunigte sich. Ihr Herz 
schlug heftig gegen ihre 
Rippen. Worte drängten sich 
in ihre Kehle, doch sie blieben 
gefangen. Plötzlich hob sie 
beide Hände und bedeckte ihr 
Gesicht. Die fremde Perspektive 
verschwand – sie war wieder in 
ihrem Körper. „Ich werde das 
nicht zulassen!“, schoss es 
ihr durch den Kopf. „Sie 
müssen nichts tun, was Sie 
nicht wollen“, sagte Pero sanft. 
„Lassen Sie uns erst einmal 
darüber sprechen, wie es 
weitergehen soll.“

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Neuroempathologie
*
Als Helenas Schritte verklungen 
waren, griff Pero in seine 
Manteltasche, zog einen weißen 
Kieselstein hervor und legte ihn 
auf die Fensterbank. Einen 
Herzschlag lang betrachtete er 
ihn, dann wandte er sich um und 
ging in den Wartebereich hinter 
den Behandlungsräumen. 
Helena hatte ihm eine 
Karteikarte gegeben, auf der 
der Name der Patientin stand. 
"Frau Sonder?" Er führte sie 
in den Therapieraum. 
Beide setzten sich. "Was kann 
ich für Sie tun?" fragte Pero 
Frau Sonder. "Meine Freundin 
hat gesagt, ich müsste lernen, 
anders zu atmen und zu sprechen."
"Sie sprechen aber doch ganz 
normal." sagte Pero. "Ja, das 
finde ich auch, aber manchmal 
ist so ein Druck auf meinen 
Schultern und in meinem Hals."
Pero sah sie an und hatte eine 
plötzliche Eingebung, als läge 
ein dunkler Schatten über der 
linken Schulter der Patientin. 
Dann sagte er:"Wir arbeiten 
hier mit der Methode der 
Neuroempathologie. Das heißt, 
wir fühlen uns in ihre 
Beschwerden ein und versuchen, 
sie von innen zu verstehen."
"Ich kann mir nichts darunter 
vorstellen." entgegnete Frau 
Sonder. "Ich kann Ihnen 
zeigen, wie diese Methode 
funktioniert, aber dazu 
müssen Sie mir die Erlaubnis 
geben, mein 
Einfühlungsvermögen zu nutzen." 

 

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Praxisraum
Am nächsten Tag fuhr Pero mit 
der Straßenbahn in die Altstadt. 
Die Schneeflocken hatten sich 
verzogen, doch der Frost lag 
noch in der Luft. Die Menschen 
zogen ihre Mäntel enger, Schals 
verdeckten Gesichter, und aus 
Mündern stieg weißer Atem. Vor 
der Tür der Praxis in der 
Bolker Straße 52 zögerte Pero 
einen Moment, bevor er 
klingelte. Die Tür öffnete sich, 
und Helena trat heraus. Sie 
musterte ihn, ließ den Blick 
über seine schmale Gestalt 
gleiten – der graue Mantel 
hing lose an seinen Schultern, 
der dunkle Schlapphut war tief 
ins Gesicht gezogen. Ihre 
Augen weiteten sich für einen 
Sekundenbruchteil, dann huschte 
ein Lächeln über ihre Lippen. 
„Schön, dich wiederzusehen!“ 
Ihre Stimme klang warm, aber 
neugierig. "Wie sehr du dich 
verändert hast! Seit wann 
trägst du einen Hut?" fügte sie 
hinzu. Pero nahm den Schlapphut 
ab und drehte ihn nachdenklich 
in den Händen. "Nur eine 
Verkleidung!" sagte er mit 
einem schiefen Grinsen. Helena 
führte ihn in einen der 
Therapieräume. Er roch nach 
warmem Holz und einer Spur 
Lavendel. Eine Behandlungsliege, 
mit blauem Stoff bezogen, stand 
an der Wand, ihre Beine aus 
hellem Kiefernholz. Im anderen 
Teil des Raumes warteten 
zwei Stühle an einem runden 
Tisch, über den ein gelbes 
Tuch gelegt war. Sie umarmte 
Pero und sagte:"Die erste 
Patientin ist schon da." 
Dann fügte sie etwas 
zögerlich hinzu: "Ich nehme 
an, du weißt noch, was du 
zu tun hast?!" "Ich habe 
viel dazugelernt." entgegnete 
er, zog den Mantel aus und 
hängte ihn mit dem Hut an 
einen hölzernen 
Garderobenständer, der 
ebenfalls im Therapieraum 
stand. "Dann lass 
ich dich mal machen. 
Ich bin drüben."

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Ankunft

Pero ahnte nicht, dass er die 
Stadt, in deren Bahnhof der 
Intercity einfuhr, zerstören 
würde. Schneeflocken trübten 
die Sicht, als er durch das 
Zugfenster auf das Lichtermeer 
von Düsseldorf hinabblickte. 
Kaum hatte er den Bahnsteig 
betreten, sprang ihn die 
Kälte an wie ein 
aufgescheuchtes Tier. 
Er zog den blauen Schal fester 
um den Hals und lief die 
Bahnhofshalle entlang hinaus 
auf den Konrad-Adenauer-Platz. 
In den letzten Tagen des Winters 
2024/25 wollte er mit seiner 
Arbeit in der therapeutischen 
Praxis von Helena Nikolao 
beginnen. Eine Windboe zerrte 
an seinem schwarzen Schlapphut. 
Mit einer Hand hielt er ihn fest. 
Sein weiter, grauer Mantel 
peitschte um seine Beine. 
Das schrille Klingeln der 
Straßenbahnen ließ ihn 
zusammenzucken. Als er mit der 
Linie 707 nach Derendorf fuhr, 
musterte er die ihm fremde Stadt 
mit wachen Augen. Während die 
Bahn ratternd durch die Straßen 
glitt, spürte er sein Herz 
schneller schlagen. „Hier 
wird mein Leben weitergehen“, 
dachte er, und erinnerte sich 
an die Vorgänge des letzten 
Jahres, in dem er versucht hatte, 
die traumatischen Ereignisse der 
Vergangenheit zu bewältigen. 
Er wusste, dass ihm das 
nicht wirklich gelungen war. 
Dennoch musste er versuchen, 
seine Aufgabe zu erfüllen: 
anderen Menschen zu helfen, 
so gut es ihm trotz seiner 
Probleme möglich war. 

 

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Baupläne
Rott und Kläff schauten hinunter 
auf den Gustav-Gründgens-Platz. 
Sie beobachteten die Menschen, 
die wie Ameisen, einzeln 
oder in Gruppen, das Schauspielhaus 
ansteuerten. Dessen geschwungene 
Bögen leuchteten im Licht der 
untergehenden Sonne. 
Es war Spätsommer 2008. Barack 
Obama war auf dem Weg, Präsident 
der Vereinigten Staaten zu werden.
„Werden sie es tun?“, fragte Rott. 
„Ja, sie werden es tun!“, 
antwortete Kläff, hob sein Glas 
mit goldbraunem Whisky und nahm 
einen Schluck. „Sie werden auf 
diesem Platz ein großartiges 
Gebäude errichten, das mit 
Hainbuchen bepflanzt wird“, fuhr 
er fort. Wie habt ihr sie dazu 
gebracht?“, fragte Rott. „Wir 
haben ihnen versprochen, dass 
dort Immobilien mit großem 
Wertsteigerungspotenzial 
entstehen!“, sagte Kläff, warf 
seinen Kopf in den Nacken und 
lachte. „Und die Pflanzen 
verbessern das Klima der Stadt!“, 
fügte er hinzu und grinste.
„Sieht man dann das Schauspielhaus 
noch?“ „Leider ja!“, murmelte 
Kläff. „Sollte man echt besser 
abreißen lassen.“ „Steht doch 
unter Denkmalschutz!“, gab Rott 
zu bedenken. „Hat dem 
Tausendfüßler auch nichts 
genutzt!“, entgegnete Kläff 
lapidar. „Man wird das Theater 
ja noch hinter den Buchen sehen“, 
fuhr er fort. „Das muss reichen!“
„Kunst muss weichen!“, sagte 
Rott und nickte. „Und was wird 
aus dem Drei-Scheiben-Haus?“
„Steht ungünstigerweise auch 
unter Denkmalschutz! Aber 
wir bauen einen viel 
größeren Turm dort auf der 
Tuchtinsel. Er wird das 
Drei-Scheiben-Haus um ein 
Vielfaches überragen!“
Kläff beugte sich über einen 
Tisch, auf dem ein Bauplan 
ausgebreitet lag. „Sieht aus 
wie die Rückenflosse eines Hais!“, 
meinte Rott. „Das meiste an 
einem Hai ist unsichtbar!“, 
sagte Kläff, lächelte Rott an und 
boxte ihm gegen die Schulter.