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Neuroempathologie
*
Als Helenas Schritte verklungen 
waren, griff Pero in seine 
Manteltasche, zog einen weißen 
Kieselstein hervor und legte ihn 
auf die Fensterbank. Einen 
Herzschlag lang betrachtete er 
ihn, dann wandte er sich um und 
ging in den Wartebereich hinter 
den Behandlungsräumen. 
Helena hatte ihm eine 
Karteikarte gegeben, auf der 
der Name der Patientin stand. 
"Frau Sonder?" Er führte sie 
in den Therapieraum. 
Beide setzten sich. "Was kann 
ich für Sie tun?" fragte Pero 
Frau Sonder. "Meine Freundin 
hat gesagt, ich müsste lernen, 
anders zu atmen und zu sprechen."
"Sie sprechen aber doch ganz 
normal." sagte Pero. "Ja, das 
finde ich auch, aber manchmal 
ist so ein Druck auf meinen 
Schultern und in meinem Hals."
Pero sah sie an und hatte eine 
plötzliche Eingebung, als läge 
ein dunkler Schatten über der 
linken Schulter der Patientin. 
Dann sagte er:"Wir arbeiten 
hier mit der Methode der 
Neuroempathologie. Das heißt, 
wir fühlen uns in ihre 
Beschwerden ein und versuchen, 
sie von innen zu verstehen."
"Ich kann mir nichts darunter 
vorstellen." entgegnete Frau 
Sonder. "Ich kann Ihnen 
zeigen, wie diese Methode 
funktioniert, aber dazu 
müssen Sie mir die Erlaubnis 
geben, mein 
Einfühlungsvermögen zu nutzen." 

 

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Praxisraum
Am nächsten Tag fuhr Pero mit 
der Straßenbahn in die Altstadt. 
Die Schneeflocken hatten sich 
verzogen, doch der Frost lag 
noch in der Luft. Die Menschen 
zogen ihre Mäntel enger, Schals 
verdeckten Gesichter, und aus 
Mündern stieg weißer Atem. Vor 
der Tür der Praxis in der 
Bolker Straße 52 zögerte Pero 
einen Moment, bevor er 
klingelte. Die Tür öffnete sich, 
und Helena trat heraus. Sie 
musterte ihn, ließ den Blick 
über seine schmale Gestalt 
gleiten – der graue Mantel 
hing lose an seinen Schultern, 
der dunkle Schlapphut war tief 
ins Gesicht gezogen. Ihre 
Augen weiteten sich für einen 
Sekundenbruchteil, dann huschte 
ein Lächeln über ihre Lippen. 
„Schön, dich wiederzusehen!“ 
Ihre Stimme klang warm, aber 
neugierig. "Wie sehr du dich 
verändert hast! Seit wann 
trägst du einen Hut?" fügte sie 
hinzu. Pero nahm den Schlapphut 
ab und drehte ihn nachdenklich 
in den Händen. "Nur eine 
Verkleidung!" sagte er mit 
einem schiefen Grinsen. Helena 
führte ihn in einen der 
Therapieräume. Er roch nach 
warmem Holz und einer Spur 
Lavendel. Eine Behandlungsliege, 
mit blauem Stoff bezogen, stand 
an der Wand, ihre Beine aus 
hellem Kiefernholz. Im anderen 
Teil des Raumes warteten 
zwei Stühle an einem runden 
Tisch, über den ein gelbes 
Tuch gelegt war. Sie umarmte 
Pero und sagte:"Die erste 
Patientin ist schon da." 
Dann fügte sie etwas 
zögerlich hinzu: "Ich nehme 
an, du weißt noch, was du 
zu tun hast?!" "Ich habe 
viel dazugelernt." entgegnete 
er, zog den Mantel aus und 
hängte ihn mit dem Hut an 
einen hölzernen 
Garderobenständer, der 
ebenfalls im Therapieraum 
stand. "Dann lass 
ich dich mal machen. 
Ich bin drüben."

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Ankunft

Pero ahnte nicht, dass er die 
Stadt, in deren Bahnhof der 
Intercity einfuhr, zerstören 
würde. Schneeflocken trübten 
die Sicht, als er durch das 
Zugfenster auf das Lichtermeer 
von Düsseldorf hinabblickte. 
Kaum hatte er den Bahnsteig 
betreten, sprang ihn die 
Kälte an wie ein 
aufgescheuchtes Tier. 
Er zog den blauen Schal fester 
um den Hals und lief die 
Bahnhofshalle entlang hinaus 
auf den Konrad-Adenauer-Platz. 
In den letzten Tagen des Winters 
2024/25 wollte er mit seiner 
Arbeit in der therapeutischen 
Praxis von Helena Nikolao 
beginnen. Eine Windboe zerrte 
an seinem schwarzen Schlapphut. 
Mit einer Hand hielt er ihn fest. 
Sein weiter, grauer Mantel 
peitschte um seine Beine. 
Das schrille Klingeln der 
Straßenbahnen ließ ihn 
zusammenzucken. Als er mit der 
Linie 707 nach Derendorf fuhr, 
musterte er die ihm fremde Stadt 
mit wachen Augen. Während die 
Bahn ratternd durch die Straßen 
glitt, spürte er sein Herz 
schneller schlagen. „Hier 
wird mein Leben weitergehen“, 
dachte er, und erinnerte sich 
an die Vorgänge des letzten 
Jahres, in dem er versucht hatte, 
die traumatischen Ereignisse der 
Vergangenheit zu bewältigen. 
Er wusste, dass ihm das 
nicht wirklich gelungen war. 
Dennoch musste er versuchen, 
seine Aufgabe zu erfüllen: 
anderen Menschen zu helfen, 
so gut es ihm trotz seiner 
Probleme möglich war. 

 

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Baupläne
Rott und Kläff schauten hinunter 
auf den Gustav-Gründgens-Platz. 
Sie beobachteten die Menschen, 
die wie Ameisen, einzeln 
oder in Gruppen, das Schauspielhaus 
ansteuerten. Dessen geschwungene 
Bögen leuchteten im Licht der 
untergehenden Sonne. 
Es war Spätsommer 2008. Barack 
Obama war auf dem Weg, Präsident 
der Vereinigten Staaten zu werden.
„Werden sie es tun?“, fragte Rott. 
„Ja, sie werden es tun!“, 
antwortete Kläff, hob sein Glas 
mit goldbraunem Whisky und nahm 
einen Schluck. „Sie werden auf 
diesem Platz ein großartiges 
Gebäude errichten, das mit 
Hainbuchen bepflanzt wird“, fuhr 
er fort. Wie habt ihr sie dazu 
gebracht?“, fragte Rott. „Wir 
haben ihnen versprochen, dass 
dort Immobilien mit großem 
Wertsteigerungspotenzial 
entstehen!“, sagte Kläff, warf 
seinen Kopf in den Nacken und 
lachte. „Und die Pflanzen 
verbessern das Klima der Stadt!“, 
fügte er hinzu und grinste.
„Sieht man dann das Schauspielhaus 
noch?“ „Leider ja!“, murmelte 
Kläff. „Sollte man echt besser 
abreißen lassen.“ „Steht doch 
unter Denkmalschutz!“, gab Rott 
zu bedenken. „Hat dem 
Tausendfüßler auch nichts 
genutzt!“, entgegnete Kläff 
lapidar. „Man wird das Theater 
ja noch hinter den Buchen sehen“, 
fuhr er fort. „Das muss reichen!“
„Kunst muss weichen!“, sagte 
Rott und nickte. „Und was wird 
aus dem Drei-Scheiben-Haus?“
„Steht ungünstigerweise auch 
unter Denkmalschutz! Aber 
wir bauen einen viel 
größeren Turm dort auf der 
Tuchtinsel. Er wird das 
Drei-Scheiben-Haus um ein 
Vielfaches überragen!“
Kläff beugte sich über einen 
Tisch, auf dem ein Bauplan 
ausgebreitet lag. „Sieht aus 
wie die Rückenflosse eines Hais!“, 
meinte Rott. „Das meiste an 
einem Hai ist unsichtbar!“, 
sagte Kläff, lächelte Rott an und 
boxte ihm gegen die Schulter.

Traumtiger – Coming soon

Träumen war verboten. 
"Wer träumt, wird 
krank!" redeten die 
Lehrer uns ein.
Sie versuchten, die 
Erinnerung an unsere 
Träume zu blockieren. 
Die Kontrolle über 
unsere Phantasien 
sollte Ihnen vorbehalten 
bleiben. Das war der Grund, 
warum Ben es keinem erzählen 
wollte. 
********** 
Er entdeckte, 
dass die Mauer, auf der er 
stand, zu einem Tempel 
gehörte. Jedenfalls glaubte 
er, dass das große Gebäude 
aus massiven Steinen 
ein Tempel war. 
Er hatte sich bisher 
hinter seinem Rücken 
befunden. Es war das 
erste Mal, dass er die 
Katzen im Traum aus den 
Augen ließ. Sie standen 
plötzlich neben ihm 
und schauten in die 
gleiche Richtung wie er. 
Die Mauer, auf der er stand, 
war Teil einer Treppe, 
die zum Tempel führte. 
Am oberen Ende 
befand sich der Eingang 
aus Steinmauern, 
die senkrecht aufragten. 
Die Steine wölbten sich 
nach oben und bildeten 
einen Tunnel, 
der in den Tempel 
hineinführte. 
Die Katzen sahen Ben 
in die Augen. 
Er zögerte einen 
Moment, 
dann stieg er die 
Stufen nach oben. 
Die Katzen folgten ihm. 
Ben hörte ihr 
leises Schnurren. 
Dass er keine 
Angst mehr hatte, fiel 
ihm 
jetzt erst auf.

Streichholzschachteln

Als ich die Streichholzschachtel 
öffnete und hineinsah, dachte ich 
natürlich, ich würde darin etwas 
finden, weil sich in Schachteln 
und anderen Behältern meistens 
etwas befindet. Ich erwartete 
keine Streichhölzer, nein, auf 
keinen Fall! So phantasielos bin 
ich dann doch nicht gewesen.
Aber es war gar nichts darin
außer einer kleinen, sich drehenden 
Scheibe, auf die eine Spirale gemalt 
war. Es sah aus wie ein Wirbelwind,
aber ein Wirbelwind, der sich 
in einer Schachtel befand.
So etwas hatte ich noch nie 
gesehen. Also machte ich mich 
dünn und sprang mitten hinein 
in den blauen Spiralwirbel.
Mir ist ganz schwindelig geworden.
Alles drehte sich und plötzlich saß 
ich auf einer Wiese; in die hatte 
jemand einen Baum gepflanzt. An 
dem Baum wuchsen lauter 
Streichholzschachteln.
Ich pflückte eine davon und sah 
hinein. Ich dachte natürlich, 
ich würde etwas darin finden. 
Ich erwartete keine 
Streichhölzer, nein, auf keinen 
Fall! So phantasielos war ich 
auch jetzt wieder nicht. 
Aber es war gar nichts darin 
außer einer kleinen, sich drehenden 
Scheibe, auf die eine Spirale gemalt 
war. Es sah aus wie ein 
Wirbelwind, aber ein Wirbelwind, 
der sich in einer Schachtel befand.
So etwas hatte ich erst vor kurzem 
gesehen. Also machte ich mich dünn 
und sprang mitten hinein in den 
blauen Spiralwirbel. Mir wurde 
schwindelig, was mir irgendwie 
bekannt vorkam,
und dann saß ich auf einer Wiese
mit lauter Bäumen, auf denen
Streichholzschachteln wuchsen.
Ich pflückte eine und wollte 
hineinsehen. Aber irgendwie 
fürchtete ich mich davor.