Mein drittes Auge

Mein drittes Auge
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Mein drittes Auge? Wo soll das sein?
Zwischen den Augen? So ein Quatsch.
Bei mir ist da nichts. Ich berühre 
die Stelle. Da ist nur glatte Haut
und ein Pickel. Ein Pickel? Ist das
etwa mein drittes Auge? Ich probiere
es einfach mal. Mein drittes Auge
sieht Dinge, die man nicht sehen 
kann - etwa die Gefühle von Menschen,
selbst wenn sie diese nicht spüren. 
Es erkennt die Gedanken hinter den 
Gedanken, die Hintergedanken - und
manchmal auch die Hinterlist. Wobei 
die Hintergedanken meist nicht 
hinterlistig sind. Mein drittes
Auge sieht die Zukunft der Welt, 
und die ist nicht rosig, jedenfalls
nicht am Anfang. Es sieht kämpfende 
Menschen, fließendes Blut. Bis diese
Menschen dann plötzlich erkennen,
dass sie wertvolle geistige Wesen 
sind, die in einem menschlichen 
Körper Erfahrungen machen. Diese
Gelegenheit - Leben auf der Erde -
gibt es im Universum unendlich 
selten. Darum wäre es schade, diese 
Chance ungenutzt verstreichen zu 
lassen. Oder sie mit Kriegen, 
Konkurrenz und Missgunst zu vergeuden. 
Mein drittes Auge sieht: Eine Zukunft
für die Menschheit kann es nur 
geben, wenn alle Menschen ihren
inneren Wert erkennen - und sich
als Mitschöpfer verstehen, in 
Kooperation mit den Kräften der 
Natur. Es gilt, die Erde und die 
Menschheit zu pflegen: jeden 
einzelnen Menschen, jeden Grashalm, 
jeden Vogel, jeden Baum. Mein 
drittes Auge sieht eine großartige
Zukunft für diesen Planeten. Die
Menschheit ist ein Anfang. Wenn 
sie ihre pubertären Probleme
überlebt, den Kosmos bereichern. 
Also los: Streckt eure Arme und 
Beine dem Licht entgegen. Umarmt 
euch, statt aufeinander 
einzuschlagen. Werdet erwachsen! 
Denn:
Wer nur an sich denkt, hat Probleme. 
Wer an andere denkt, hat eine Aufgabe. 
 

 

Auf der Kräuterinsel

Auf der Kräuterinsel
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Sie schaute aus dem geöffneten 
Fenster und sog den milden 
Kräuterduft ein, den der Wind 
plötzlich vom Fluss herübergetragen 
hatte. Auf der Insel dort draußen 
schienen Kräuter zu wachsen. Minze 
konnte sie deutlich riechen 
und etwas, das sie an Salbei erinnerte, 
aber eine Spur bitterer war. In der 
Nacht träumte sie von den duftenden 
Pflanzen. Schon früh am nächsten 
Morgen nahm sie eines der Ruderboote 
und nahm Kurs auf die Insel - jene 
Insel, auf der eigentlich, nach der
lang anhaltenden Dürre und einem 
verheerenden Brand keine Natur mehr 
zu erwarten gewesen war. Doch es gab 
noch einen Anlegesteg, an dem sie das 
Boot festmachen konnte, und einen Pfad, 
der sie in den verstümmelten Wald 
führte. Der Kräutergeruch wurde 
intensiver und bald entdeckte sie einen 
kleinen Garten, der sich auf einer 
ehemaligen Lichtung ausbreitete. 
Flache Steine, als Trittplatten in die 
Erde eingelassen, führten mitten durch 
das Beet bis zu einem Altarstein, der 
wie ein kleiner Obelisk geformt war. 
Daneben stand eine einfache Bank. Sie 
setzte sich und bemerkte vor dem 
Obelisken eine Steinfigur auf dem 
Boden: ein Mann mit überkreuzten 
Beinen und zur Schale gefalteten 
Händen vor dem Bauch. Die Ohren 
waren wie die eines Elefanten ausgeformt 
und sein Blick freundlich und klar. Sie 
kannte das Gesicht. Es war ihr schon 
öfter im Traum erschienen und erfüllte 
sie jedes Mal mit großer Ruhe. Die Fülle 
der Katastrophen, die über die Erde 
hereingebrochen waren, erschien durch 
seine Präsenz in einem anderen Licht 
- als seien sie Mahnung und Hoffnung
zugleich. Alles in ihr wurde still. 
Und sie vernahm eine feine, innere 
Stimme, die sie zuletzt in ihrer 
Kindheit gehört hatte. Eine Stimme, 
der sie damals nicht mehr lauschen 
durfte, weil man ihr verboten
hatte, ihr zu vertrauen. Sätze wie: 
"Das sind nur Hirngespinste!"
oder "Das bildest du dir ein!" 
hatten sie an sich selbst zweifeln lassen. 
Doch jetzt war die Stimme wieder da.
Und diesmal würde sie üben, ihr zu folgen.