Diagnosen

Diagnosen
*
Weil Rosenmund
nichts sagen tut,
tropft Tränenbirke
grünes Blut.

Das Löwenzahnohr
hört den Wind
weil seine Kind'
verschwunden sind.

Der Fingerhutklee
ziert die Hand.
Sein Gift bringt dich
um den Verstand.

Das Efeuherz
umschlingt die Rippen.
Hier würde ich auf
Herzschmerz tippen.

So spricht der
Doktor Eisenbart
auf seine
arrogante Art.

Changierender Lurch

Changierender Lurch
*
Ein Tiefgebiet zieht 
durch mich durch.
Ich fühl mich traurig 
wie ein Lurch
der seinen 
Lebensraumverlust
erträgt durch 
kultivierten Frust.

Ein Salamander 
haust in mir.
Bin ich ein Mensch? 
Bin ich ein Tier?
Im Angesicht der 
Möglichkeiten,
beginn ich mit 
mir selbst zu streiten.

Mal Raufbold, 
dann ein Diplomat,
schaffe ich selten 
den Spagat
zwischen sich 
streitenden Gefühlen
und sitze zwischen 
allen Stühlen.

So lebe ich 
im Widerstreit
changierender 
Befindlichkeit.
Die Stimmung schwankt 
mal her, mal hin,
weil ich mal dies, 
mal jenes bin.

Himmelsbote

Himmelsbote
*
Ich bin unsichtbar 
und oft still.
Als Wind weh ich, 
wohin ich will.
Man braucht mich, doch 
man kennt mich nicht.
Mein Körper hat 
kein Angesicht.

Mal bin ich nur 
ein sanfter Hauch,
streich über Stirne, 
Hand und Bauch,
zerwühl als Böe 
das glatte Haar
zu Strähnen wild 
und wunderbar.

Die Wolken sind 
mein Zeichenstift
für meine klare 
Bilderschrift.
Ich schreibe sie 
mit meinem Wehen,
damit die Menschen 
mich verstehen:

Tötet ihr mich, 
vergeht auch ihr.
Das Leben ist 
ein großes Wir,
in dem alles 
einander nährt.
Atem wird jedem 
Sein gewährt.

Wagemut

Wagemut
*
Die Dunkelheit ist 
mir vertraut,
sie wurde nicht 
aus Licht gebaut.
Erkennbar fehlt 
ihr ja das Licht,
ich greife sie 
und fass sie nicht,
denn ihr fehlt 
tastbare Substanz
in ihrem 
lichterlosen Tanz.

Wenn sie so finster 
auf mich schaut,
gesteh ich, dass 
mir vor ihr graut.
Sobald sie dunkel 
auf mich blickt,
spür ich, wie sehr 
mein Herz erschrickt,
wie es vor Angst 
beinah erbleicht
und Furcht in meine 
Glieder schleicht.

Ich wage kaum, 
sie anzuschauen.
Der Dunkelheit kann 
ich nicht trauen.
Es sei denn, in 
ihr liegt ein Sinn,
dem ich noch nicht 
begegnet bin.
Sollte ich achtsam 
auf sie bauen
und mich ihr mutig 
anvertrauen?

Vielleicht liegt 
in der Dunkelheit
der Plan für 
jene Ewigkeit,
die wir uns 
insgeheim erhoffen.
Stehen die 
Pforten etwa offen?
Ich will den Schritt 
ins Dunkle wagen
und hoffe sehr, 
sie wird mich tragen.

"Springe - und das Netz 
wird erscheinen!"
(Julia Cameron)

Ein Gedicht steht auf dem Mond

Ein Gedicht steht 
auf dem Mond
*
Auf dem Mond, 
im weißen Licht,
steht nachdenklich 
ein Gedicht.
"Ich und dieser 
Erdtrabant
sind vertraut 
und wohlbekannt.
Und, bei meiner 
Dichterehre,
er bewegt die 
Weltenmeere
dieser Kugel, 
weiß und blau.

Wenn ich auf 
die Erde schau,
seh' ich hinter 
ihr im All
leuchtend einen 
Feuerball,
um den beide 
Kugeln kreisen."
flüstert es in 
stillen, leisen
fast bewundernden 
Gedanken,
um die 
Schöpfungsmacht 
zu preisen.
"Dafür will ich 
mich bedanken!"

Welche Frau und 
welcher Mann
hat dies große 
Werk kreiert
und das Regelwerk 
studiert,
das den Kosmos 
hegt und pflegt?
Von dem Anblick 
tief bewegt
fängt die Dichtung 
an zu träumen
von den unerforschten 
Räumen
dieser wunderbaren 
Welt,
die uns in 
den Armen hält.
Ein Gedicht auf dem Mond – 
Staunen als Anfang des Denkens:

Ein Gedicht steht auf dem 
Mond. Von dort blickt es auf 
Erde und Sonne und beginnt 
zu fragen: Wer hat diese 
Ordnung geschaffen, die 
Meere und Bahnen lenkt? Damit 
wird Sprache selbst zur 
Himmelserscheinung: 
Sie schaut, denkt, staunt.
Der Mond ist Schwelle und 
Spiegel. Von ihm aus wirkt 
die Erde vertraut und zugleich 
entrückt. So erinnert das 
Gedicht daran, dass auch wir 
Menschen immer beides sind – 
Teil der Welt und Betrachter 
von außen. Im Zentrum aber 
steht das Staunen. 
Seit den frühen Philosophen 
gilt es als Ursprung allen 
Denkens. Hier erscheint es 
nicht in gelehrten Begriffen, 
sondern in einem schlichten 
Satz: „Dafür will ich mich 
bedanken.“ Kein dogmatisches 
Wissen, sondern ein leises 
Anerkennen. Am Ende beginnt 
die Dichtung zu träumen. 
Von Räumen, die unerforscht 
bleiben, und von einer Welt, 
die uns hält wie in Armen. 
So lädt das Gedicht dazu ein, 
das Staunen nicht zu verlernen – 
als philosophische 
Grundhaltung, als poetisches 
Geschenk.

 

Flanier-Raupe

Die Flanier-Raupe
*
Ein stiller Tag.
 Sie ist bereit
für eine kleine 
Pausenzeit.
Will heut nicht mehr 
an Blättern kau'n,
hat Lust, sich draußen 
umzuschau'n.

Sie kriecht gemächlich 
durch die Gasse,
vorbei an einer 
Bar-Terrasse.
Die Gläser blinken, 
sie kann seh'n,
wie Menschen sich 
hier gut versteh'n.

"Ach, hätt' ich 
einen Menschenleib,
wenn auch nur kurz, 
zum Zeitvertreib!"
so denkt die Raupe 
und flaniert
gemächlich weiter, 
ungeniert.

Doch trifft sie 
plötzlich neben sich
ihr Spiegelbild. 
"Bin das wohl ich?"
Staunend dreht sie 
sich hin und her.
"So schön bin ich! 
Was will ich mehr?"

Mit sich versöhnt, 
kriecht sie zurück,
zum Baum, zum Blatt, 
zum stillen Glück,
knabbert an Blättern, 
zart und fein.
Zufriedener 
kann niemand sein.
Gedichtinterpretation: 
Die Flanier-Raupe
 Das Gedicht erzählt von 
einer Raupe, die flaniert, 
sich im Spiegel begegnet und 
schließlich zu ihrem Baum 
zurückkehrt. Was wie eine 
kleine Tierfabel wirkt, wird 
zum Bild der Selbstsuche: 
Das Alltägliche erhält Tiefe. 
Die Raupe verlässt den 
Rhythmus des Blätterkauens 
und begibt sich ins Flanieren 
– nicht aus Not, sondern aus 
Sehnsucht. Hier ahnt man, 
dass Sinn im zweckfreien 
Handeln liegt, im 
Staunen über die Welt. 
Der Spiegel markiert den 
entscheidenden Moment: 
Die Raupe erkennt sich – 
und zugleich ein fremdes Bild. 
Sie erfährt, dass sie mehr 
ist als bloße Natur, ein Wesen 
mit der Fähigkeit, sich selbst 
zu überraschen. Statt 
Verwandlung folgt Rückkehr. 
Kein Schmetterling, 
sondern Versöhnung mit dem 
Gewöhnlichen. Die Pointe ist 
fast provokant: „Zufriedener 
kann man nicht sein.“ Die 
Tiefe zeigt sich in der 
Schlichtheit – wie in 
stoischer Gelassenheit 
oder zenbuddhistischer 
Achtsamkeit. So wird das 
Gedicht zu einer 
Miniatur über Selbstbegegnung 
und Einverständnis mit dem 
Leben – ein Beweis, dass 
auch das Unspektakuläre 
die größte philosophische 
Kraft bergen kann.

Wirtschaftliche Flaute

Wirtschaftliche Flaute
*
Der Zins der Liebe war gering.
Die Herzbilanz gab keinen Sinn.
Sein Mitleidshaushalt war erschöpft,
Darum gab er sich zugeknöpft.

Der Frustverkauf ist nicht geglückt,
Neidprämien haben ihn erdrückt.
Der Sorgenfonds nahm stetig zu,
der Angstgewinn raubt ihm die Ruh.

Trostdividenden gab es nicht -
was nicht für die Gesellschaft spricht.
Gefühlsumsätze brachen ein,
die Schamsteuer vermehrt die Pein.

Verzweiflungsdarlehen zwangen ihn
am Ende nur noch still zu knien.

Gefühlsgleichung

Gefühlsgleichung
*
Sie träumt oft von ihm 
und der Hingabegleichung,
erhält aber nur 
eine Handüberreichung.
Sein Zärtlichkeitsvektor 
blieb unter der Norm,
drum suchte sie 
eine Umarmungsreform.

Sie schlug forschend nach 
im Erklärungsverzeichnis,
doch fand sie dort nur 
ein betrübliches Gleichnis:
Gefühlspragmatismus 
statt Puls-Emotion
verhindert auf Dauer 
die Kussproduktion.

So forschte sie weiter 
nach fühlbaren Quellen,
um sich dem Gefühlsalgorithmus 
zu stellen.
Beziehungssysteme galt 
es zu erkunden,
doch hat sie das Herzintegral 
nicht gefunden.

Da lernte sie plötzlich 
mit glasklarem Blick:
die Liebe erscheint 
nicht als Mathematik.
Wo Zahlen zerfallen, 
beginnt Resonanz,
sie drehen sich sanft 
in lebendigem Tanz.

Samen der Hoffnung

Samen der Hoffnung
*
Die Landschaft wirkt 
verdorrt und leer, 
denn Bäume wachsen 
hier nicht mehr. 
Die Dürre nahm 
dem Boden Kraft, 
kein Halm, der sich 
hier Raum verschafft.
 
Nur Vögel ziehen 
manchmal hier, 
still kreisend 
über dem Revier, 
das von Zerstörung 
fast bedroht. 
Dort unten landen 
Harn und Kot.
 
Die Tropfen fallen, 
wo's gefällt, 
am Boden dieser 
öden Welt 
und tragen so 
der Früchte Samen, 
die Vögel hungrig 
zu sich nahmen.

 
Plötzlich gedeihen 
an dem Ort 
zartgrüne Pflänzchen 
hier und dort. 
Sie wachsen, weil 
sie sich erkühnen, 
den kargen Boden 
zu begrünen.
 
Erst eins, dann zwei, 
sie sprießen weit 
und bilden Polster 
mit der Zeit, 
bedecken Erde 
und Gestein 
um rasch ein dichtes 
Netz zu sein.
 
Bald wachsen Stauden, 
Sträucher dicht, 
ihr Blätterdach schützt 
vor dem Licht. 
Ein Schatten fällt, 
der Boden ruht, 
geschützt vor 
heißer Sonnenglut. 
Aus Vogelkot, das 
sieht man hier, 
erblüht ein neues
Waldrevier. 
Vertrauen wir der 
Welten Lauf. 
Das Leben keimt und
wächst hinauf.