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Reitallee
*
Nachdem Frau Sonder gegangen war, 
erwartete Pero noch einen Termin 
mit Egon Sander. Dessen Blick 
huschte ruhelos durch den 
Therapieraum, seine Augen 
flackerten, und immer wieder 
blieb er an dem Kieselstein 
auf der Fensterbank hängen. Pero 
nahm die Energie des Mannes wahr, 
spürte die Unruhe in der Luft. 
Ohne zu fragen, tastete er 
dessen Energiefeld ab – und 
wusste sofort, dass hier 
Grenzen gesetzt werden mussten.
„Ich bin so nervös“, hatte Herr 
Sander als Grund für seine 
Sitzung angegeben. Doch seine 
Haltung erzählte eine andere 
Geschichte. Die ganze Zeit 
hielt er eine Aktentasche fest 
auf dem Schoß, die Finger um 
den Griff gekrampft, als hinge 
sein Leben daran.
Am Nachmittag fragte Pero 
Helena, ob sie ihn zum Schloss 
Jägerhof begleiten würde. Er 
erinnerte sich nicht mehr an 
den Weg. Gemeinsam verließen 
sie die Altstadt, gingen am 
Opernhaus vorbei in die 
Jacobistraße.
Vor dem Schloss Jägerhof 
überquerten sie die Straße und 
bogen in die Reitallee ein. 
Zwischen den vier 
Bronzeskulpturen, die Frauen 
und Kinder in barocken 
Kleidern zeigten, blieb Pero 
stehen. Er griff in die 
Manteltasche, nahm vier weiße 
Kieselsteine heraus und 
legte jeweils einen auf eine 
der Skulpturen.
„Solange etwas Schweres auf 
dem Boden steht, kann nichts 
passieren“, sagte er und 
lächelte Helena an.
Sie sah ihn lange an. 
„Ich dachte, du hättest 
das überwunden.“ „Ja“, 
antwortete Pero. „Das habe 
ich. Aber mit anderen 
Konsequenzen, 
als ich dachte.“
*


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