Die Flanier-Raupe
*
Ein stiller Tag.
Sie ist bereit
für eine kleine
Pausenzeit.
Will heut nicht mehr
an Blättern kau'n,
hat Lust, sich draußen
umzuschau'n.
Sie kriecht gemächlich
durch die Gasse,
vorbei an einer
Bar-Terrasse.
Die Gläser blinken,
sie kann seh'n,
wie Menschen sich
hier gut versteh'n.
"Ach, hätt' ich
einen Menschenleib,
wenn auch nur kurz,
zum Zeitvertreib!"
so denkt die Raupe
und flaniert
gemächlich weiter,
ungeniert.
Doch trifft sie
plötzlich neben sich
ihr Spiegelbild.
"Bin das wohl ich?"
Staunend dreht sie
sich hin und her.
"So schön bin ich!
Was will ich mehr?"
Mit sich versöhnt,
kriecht sie zurück,
zum Baum, zum Blatt,
zum stillen Glück,
knabbert an Blättern,
zart und fein.
Zufriedener
kann niemand sein.

Gedichtinterpretation:
Die Flanier-Raupe
Das Gedicht erzählt von
einer Raupe, die flaniert,
sich im Spiegel begegnet und
schließlich zu ihrem Baum
zurückkehrt. Was wie eine
kleine Tierfabel wirkt, wird
zum Bild der Selbstsuche:
Das Alltägliche erhält Tiefe.
Die Raupe verlässt den
Rhythmus des Blätterkauens
und begibt sich ins Flanieren
– nicht aus Not, sondern aus
Sehnsucht. Hier ahnt man,
dass Sinn im zweckfreien
Handeln liegt, im
Staunen über die Welt.
Der Spiegel markiert den
entscheidenden Moment:
Die Raupe erkennt sich –
und zugleich ein fremdes Bild.
Sie erfährt, dass sie mehr
ist als bloße Natur, ein Wesen
mit der Fähigkeit, sich selbst
zu überraschen. Statt
Verwandlung folgt Rückkehr.
Kein Schmetterling,
sondern Versöhnung mit dem
Gewöhnlichen. Die Pointe ist
fast provokant: „Zufriedener
kann man nicht sein.“ Die
Tiefe zeigt sich in der
Schlichtheit – wie in
stoischer Gelassenheit
oder zenbuddhistischer
Achtsamkeit. So wird das
Gedicht zu einer
Miniatur über Selbstbegegnung
und Einverständnis mit dem
Leben – ein Beweis, dass
auch das Unspektakuläre
die größte philosophische
Kraft bergen kann.
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