Wohnungsnot

Wohnungsnot
*
Er rannte schon die ganze Zeit
und war ein wenig atemlos, denn
er wollte der erste sein, der die
frei werdende Wohnung besichtigte.
Aber als er um die nächste Ecke bog,
war vor dem Haus schon eine lange
Schlange mit wartenden Menschen zu 
sehen. Er hatte von dieser Wohnung
geträumt und er wusste, dass er an
diesem Ort das ganz große Glück 
finden würde. Darum wäre es auch
einfach nicht richtig gewesen, am
Ende der Schlange zu warten. Er
kämpfte sich tollkühn nach vorn.
Den einen boxte er in die Rippen
und dem nächsten trat er mit der
Ferse seiner Stahlsohle auf die
Zehenspitzen in der Sandale, so
dass dieser aufschrie und zur 
Seite sprang. Dem Mann mit dem 
Hut schlug er seine Tasche um 
die Ohren und drückte ihn mit der
Schulter zur Seite. Die nächste
Bewerberin vor ihm war eine Frau
im roten Rock. Er löste ihren Gürtel
und riss den roten Stoff mit einem
Aufschrei nach unten, um weiter
nach vorne zu stürmen und den
nächsten Konkurrenten aus dem 
Weg zu räumen. 

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Schützende Steine
*
Es war das Jahr 62 n.Chr. Pero 
kniete auf der kargen Erde, die 
warme Sonne Pompejis im Nacken. 
Mit konzentriertem Blick stapelte 
er kleine Steine aufeinander, 
seine Finger streiften über 
ihre rauen Oberflächen. Sein 
Turm wuchs langsam, wackelig, 
aber er hielt. Ein leises 
Lächeln huschte über sein Gesicht.
Plötzlich vibrierte der Boden 
unter ihm. Erst kaum merklich, 
dann heftiger. Die Steine in 
seiner Hand erzitterten. Vögel 
stoben krächzend aus den 
Bäumen, Hunde jaulten. Ein 
dumpfes Grollen rollte durch 
die Erde, wuchs zu einem 
Brüllen heran, das in seinen 
Knochen vibrierte. Pero riss 
die Arme um seinen Kopf, als 
der Boden unter ihm aufbrach. 
Gras und Erde rissen sich los, 
schleuderten ihn in die Höhe. 
Sein Herz raste, der Wind 
peitschte ihm ins Gesicht. 
Sekunden dehnten sich in die 
Ewigkeit. Dann ein Ruck 
– plötzlich lag er wieder 
auf festem Grund, die Finger 
krampfhaft im Gras vergraben. 
Er keuchte, sein Brustkorb 
hob und senkte sich stoßweise.
Sein Blick suchte panisch die 
Umgebung ab. Alles lag in 
Trümmern: umgestürzte Amphoren, 
zersprungene Wände. Aber sein 
Turm? Die Steine standen noch! 
Unversehrt, als hätte die 
Erde nicht gezittert. Er 
blinzelte. Dann beugte er 
sich vor, berührte vorsichtig 
die Steine. Ein Gedanke formte 
sich in seinem Kopf: Wenn 
selbst das Zittern der Erde 
ihnen nichts anhaben konnte, 
dann mussten Steine eine Kraft 
besitzen, die größer war als 
das Chaos um ihn herum. 
Vielleicht – ja, vielleicht 
könnten sie nicht nur Türme, 
sondern ganze Häuser und 
Tempel vor der Wut der 
Erde schützen. Mit neuen 
Ideen wirbelte Pero auf, 
rannte durch die Gassen. Er 
musste jemandem davon erzählen. 
Die Stadt lebte, bebte, 
Menschen riefen einander zu, 
hasteten über die Straßen. 
Pero aber dachte nur an eines: 
an Steine, die jeder Gefahr 
standhalten konnten.

Abserviert

Abserviert
*
In der Traumstadt 
im "Hotel zum Gänsebraten"
muss man lange auf 
die heißen Speisen warten.
Hat man sie dem 
Regelwerk gemäß bestellt,
werden sie, gut duftend, 
auf den Tisch gestellt.
Bringt jedoch der 
Kellner Kurt das Essen,
kann man jede Aussicht 
auf Genuss vergessen.
Wenn er kommt, dann 
sind die Speisen kalt,
und sie werden lieblos 
auf den Tisch geknallt.
Wagt man es, sich 
deshalb zu beschweren,
muss man sich 
der Vorwürfe erwehren,
dass man asozial 
sei und Rassist,
weil er, Kurt, die 
Wertschätzung vermisst,
mit der man sich 
als ein Gast bewährt
und danach erst 
seine Gunst erfährt. 
Deshalb wird man 
nach dem Mahl gebeten,
dieses Haus nicht 
wieder zu betreten.

 

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Steintherapie
*
Zur Fortsetzung seiner 
Eigentherapie besuchte Pero 
regelmäßig die Steinheilerin 
Florinella Schwups. Ihre 
kleine Praxis für 
Steinheilkunde lag versteckt 
in einem Altbau an der 
Schadowstraße, wo der Duft 
von Räucherstäbchen in der 
Luft hing und Kristalle in 
Glasvitrinen funkelten.
Pero lag auf der 
Behandlungsliege. Zwei dünne 
Stäbe aus Rosenquarz ragten 
aus seinen Nasenlöchern.
„Nieg neine Nuft nehr“, 
murmelte er.
„Durch den Mund“, flötete 
Florinella. „Ganz bewusst 
ein- und ausatmen. Der 
Rosenquarz öffnet das Tor 
zu Ihren Gefühlen.“ Pero 
entspannte den Unterkiefer. 
Florinella legte ihm ein 
Tigerauge auf die Stirn.
„Dieses hier stimuliert 
die Zirbeldrüse. Manche 
sehen dabei Bilder aus 
ihren vergangenen Leben.“
Ein sanfter Druck auf 
seinem Bauch – ein 
Bergkristall. Mit jedem 
Atemzug hob und senkte 
sich der Stein. Pero 
spürte ein Kribbeln in 
den Fingerspitzen, ein 
Ziehen in der Magengegend. 
Ein leichter Schwindel 
setzte ein. Dann das Kühle, 
Kreisen auf seinen Fußsohlen. 
Der Amethyst, geführt von 
Florinellas Fingern. Erst 
sanft, dann bestimmter. 
Mit einem Mal hatte er den 
Eindruck, aus seinem Körper 
hinaus zu schießen und 
sich selbst von oben zu 
sehen. Dann entfaltete sich 
eine Szene vor seinem 
inneren Auge – scharf, 
leuchtend, real, die ihn 
plötzlich erkennen ließ, 
warum er den dringenden 
Wunsch verspürte, den 
Boden in seiner Umgebung 
mit Steinen zu beschweren.

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Geschäfte
*
„Hast du es getan?“, fragte Rott 
leise. „Ja“, erwiderte Kläff, 
nahm sein Glas mit goldbraunem 
Whisky und ließ die Flüssigkeit 
langsam über die Zunge rollen.
Die beiden Männer saßen in der 
Bar des Steigenberger Parkhotels, 
gedämpftes Licht spiegelte sich 
in den schweren Kristallgläsern. 
Draußen rauschte der Verkehr 
über den Boulevard, doch hier 
drinnen herrschte eine gedämpfte, 
fast intime Stille. „Ich habe 
das Grundstück der alten 
Kaufhof-Filiale am Wehrhahn 
günstig aus einer 
Insolvenzmasse ersteigert“, 
sagte Kläff schließlich. 
„Und mit sattem Gewinn an 
die Stadt verkauft.“ Rott 
hob eine Braue. „Wie hast 
du sie dazu gebracht?“ „Sie 
brauchen Platz für eine neue 
Oper“, erklärte Kläff mit 
einem süffisanten Lächeln. 
„Großes Ding. Stadtentwicklung, 
Wirtschaftsförderung, blühende 
Innenstadt – die üblichen 
Parolen.“ Rott lehnte sich 
zurück, rieb mit dem Daumen 
über den Rand seines Glases. 
„Und was passiert mit der 
alten Oper in der Altstadt?“
Kläff zuckte die Schultern. 
„Wird wohl abgerissen.“ „Steht 
die nicht unter Denkmalschutz?“
Ein kurzes, trockenes Lachen. 
„Die Stadt nimmt es damit 
nicht so genau.“ Rott schwieg 
einen Moment, dann hob er 
seine Hand. Kläff tat es ihm 
gleich. Mit einem satten 
Klatschen trafen ihre 
Handflächen aufeinander. „Es 
gibt eben Schlaufüchse und 
Opfer“, sagte Kläff grinsend.
„Und wir sind keine Opfer.“
Sie lachten.

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Eine geniale Idee
*
"Nach dem Einsturz der Türme 
lag eine bleierne Schwere über 
New York. Die Bewohner der 
Stadt wurden von ihrer Trauer 
und den Erinnerungen an diese 
Vorfälle erdrückt. Doch durch 
das Kunstprojekt "The Gates" 
wurde mit dem flatternden 
Saffrangelb der gestalteten 
Tore die Möglichkeit geschaffen, 
durch sie hindurchzutreten, 
weiterzugehen – und die 
Vergangenheit für einen 
Moment hinter sich zu lassen.“
Er machte eine einladende Geste. 
„Düsseldorf braucht Stabilität 
nach den Jahren voller 
Baustellen, die das Gesicht 
der Stadt immer wieder 
verändert haben. Unsere 
Elefanten werden zu Ankern 
in der Stadtlandschaft. Kunst, 
die nicht nur betrachtet, 
sondern als Sicherheit gebende 
Schwere gespürt werden kann.“
Stille. Dann erstes Nicken und 
ein Raunen, das nach Zustimmung 
klang. "In New York konnte die 
ganze Welt an dem Ereignis 
teilnehmen. Lassen Sie uns 
das auch so machen." Applaus 
brandete auf. Der Vorsitzende 
erhob sich, trat auf Pero zu 
und reichte ihm die Hand. 
„Der Verein steht hinter 
Ihrem Projekt. Die 
Elefantenanker werden  
Wirklichkeit.“ 

Narrenhände

Narrenhände
*
"Narrenhände beschmieren Tisch
und Wände!" So hieß der Spruch,
den meine Mutter mir immer um
die Ohren gehauen hat. Dabei
habe ich sehr fleißige Hände,
die alles Mögliche in Ordnung 
bringen können. Meine Hände
können zufassen und loslassen.
Sie können heranziehen und 
fortstoßen. Mit Händen kann
man Häuser bauen und Türme 
einreißen, Äpfel vom Baum
pflücken und Kuchen backen. 
Mit den Händen kann man sich 
am Ohr kratzen und die Nase 
putzen. Man kann Romane 
schreiben oder 
Beschwerdebriefe an den
Vermieter, wenn die Heizung 
mal wieder nicht geht. Hände
können Rhythmen klatschen und
auf die Trommel schlagen. 
Hände machen Spaß.


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Stofftore
*
Pero war Feuer und Flamme für 
die Idee, Elefanten als 
Kunstwerke in die U-Bahn-
Stationen zu stellen, um die 
Stadt schwerer zu machen. Doch 
wie ließ sich die Rheinbahn 
davon überzeugen, dass es 
sich um ein förderungswürdiges 
Kunstprojekt handelte? Helena 
trommelte mit den Fingern 
auf den Tisch. „Vielleicht 
über einen Verein? Einer, 
der sich für alternative 
Kunst in Düsseldorf 
starkmacht?“ Ihr Blick 
wanderte zu Pero. „Wenn die 
als Vermittler auftreten, 
könnte das helfen.“ Die 
Idee nahm Fahrt auf. Am 
Karnevalssonntag 2025 stand 
Pero schließlich vor den 
Mitgliedern der Gute-Laune-
in-Düsseldorf-Stiftung 
(GLiDStif e.V.). Der Verein 
hatte sich im historischen 
Theatersaal des Malkastens 
versammelt, einer Kulisse, 
die von Kreativität vibrierte.
Auf der Bühne schob Pero 
seine Brille zurecht, straffte 
die Schultern. Sein Blick 
glitt über die Zuhörer. Dann 
begann er. "Was wir hier mit 
den Steinen versuchen, haben 
Christo und Jeanne-Claude im 
New Yorker Central-Park mit 
Stoff gemacht. Nur in eine 
andere Richtung." Er hielt 
einen Moment inne, ließ den 
Satz wirken. 

Intelligenztest

Intelligenztest
*
Aliens sind auf der Erde gelandet
und wollen die Menschheit vernichten,
es sei denn, sie finden  heraus, dass
die Menschen intelligent genug sind,
den Planeten zu retten. Jeder
Mensch bekommt einen Gegenstand und
muss herausfinden, welche 
Funktion er hat. Hier ist der Bericht
über den Gegenstand, den ich erhalten
habe:
Ich habe ein Objekt erhalten, um es
eingehend zu untersuchen. Es handelt 
sich dabei um eine kleine rote Platte,
die nach außen gewölbt ist. Innen
befindet sich ein Stachel und ein 
Haken. Ich habe die rote Fläche 
abgeleckt, aber dabei scheint nichts 
Außergewöhnliches zu passieren. Auch
wenn ich daran rieche oder hineinbeiße,
bemerke ich keine Reaktion. Halte ich 
die runde Fläche an mein linkes Ohr und
reibe sie hin und her, entsteht ein
kratzendes Geräusch, das mich neugierig
gemacht hat. Darum habe ich den Haken 
mit der Öse an der Innenseite meines 
Ohres befestigt. Plötzlich war ich in
der Lage, eine fremde Sprache zu hören.
Das rote Ding scheint ein Empfänger zu 
sein und übersetzt die empfangenen 
Signale in Worte. Aber offenbar werden
die Signale, die von den Aliens kommen,
in eine Sprache übersetzt, die ich nicht 
verstehen kann, denn sonst würde ich ja
etwas verstehen. Was aber nicht der Fall
ist. Ich verstehe nur Bahnhof. Darum 
möchte ich die Aliens um eine Aufgabe 
bitten, die ich lösen kann, um die 
Menschheit zu retten. In welcher Sprache 
ich die Bitte äußern kann, weiß ich aber
nicht. 

Boshafte Berta

Boshafte Berta
*
Schon in Kindertagen entpuppte 
sich Berta als boshafte Teufelin. 
Sie quälte ihre Spielgefährten
und traktierte in der Schule im
Handarbeitsunterricht die
anderen Kinder mit Stricknadeln,
die sie zuvor an Kerzen erhitzt
hatte. Mitten im dritten 
Schuljahr wurde sie der Schule
verwiesen und bekam ab da 
Unterricht bei einem Hauslehrer,
der mit strenger Hand versuchte,
das bösartige Kind zu bändigen.
Der Versuch scheiterte, weil Herr
Schlaumeier nach drei Monaten
weinend das Haus verließ und sich
schwor, es nie wieder zu betreten.
Erst als Anna Montessori in 
Bertas Leben trat, wendete sich 
das Blatt. Anna, eine ehemalige 
Waldorfschülerin, hatte an der 
Mahatma-Gandhi-Universität in 
Göttingen "Angewandte Empathie" 
studiert. Ihre Doktorarbeit 
über "Psychische Deformationen 
amerikanischer Präsidenten" 
ermöglichte es ihr, sich 
gedanklich und emotional in 
problematische 
Persönlichkeiten hineinzufühlen.

Anna bemerkte die stillen 
Tränen in Bertas Augenwinkeln 
und die versteiften Schultern, 
wenn bestimmte Themen zur 
Sprache kamen. Stück für Stück 
erkannte sie die traumatischen 
Erfahrungen, die Bertas 
auffälliges Verhalten bedingten. 
Sobald dieser Knoten gelöst war, 
blühte Berta auf und verwandelte 
sich in ein intelligentes, 
wissbegieriges Kind.
Anna bereitete sie darauf vor, 
das Abitur an einer staatlichen 
Schule abzulegen, und später 
promovierte Berta als jüngste 
Studentin an der Universität 
Hohenheim in den Fächern 
Psychologie, Philosophie und 
Informatik. In späteren Jahren 
wurde Berta für ihre 
bahnbrechenden Bücher über 
"Die Entstehung psychischer 
Erkrankungen von Männern in 
gehobenen Positionen" mit 
dem Friedenspreis des 
Deutschen Buchhandels 
ausgezeichnet. Ihre Werke 
führten zu einer Revolution, 
bei der schließlich nur 
noch Frauen in 
Regierungsämter gewählt 
wurden.