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Wasseralarm
*
Helena stand in der Nähe des 
Fortuna-Büdchens und lehnte sich 
gegen die Mauer am Joseph-Beuys-Ufer, 
die Zeitung halb gefaltet in der Hand. 
Ihre Augen huschten über die 
Schlagzeile: Meeresspiegelanstieg 
beschleunigt sich weiter – 5,9 mm 
allein in 2024. Sie presste die 
Lippen aufeinander. Erwartet waren 
4,3 Millimeter gewesen. NASA-Analysen 
bestätigten die neuen Zahlen 
– eine Entwicklung, die nicht mehr 
zu leugnen war. Sie hob den Blick 
und sah auf den Rhein. Die Strömung 
war träge, doch das Wasser stand höher 
als noch vor einigen Monaten. Die 
Ufersteine, die früher trocken 
dalagen, glänzten nun feucht in der 
Sonne. In ihrem Kopf tauchten die 
Zahlen aus einem wissenschaftlichen 
Artikel auf: Bis 2050 könnte der 
Meeresspiegel um 32 Zentimeter 
steigen. Doch um sie herum? Keine 
Spur von Besorgnis. Kinder lachten, 
ein Paar lehnte sich an die Brüstung, 
ein Straßenmusiker spielte eine sanfte 
Melodie. Als wäre alles in Ordnung.
Helena seufzte, bückte sich und hob 
ein paar Steine vom Boden auf. Mit 
Bedacht legte sie sie auf die Mauer, 
als könnte sie damit den Fluss 
aufhalten, das Unausweichliche 
verzögern. Lächerlich. Ihr Blick 
haftete auf den Steinen, während 
ihre Finger sich in die raue 
Oberfläche gruben. Ob es überhaupt 
noch Hoffnung gab? Ob irgendjemand 
die Zeichen erkannte? Eine Welle 
klatschte gegen die Kaimauer. Der 
Wind trug das Echo über die 
Promenade – ein leises, 
eindringliches Flüstern.
*

Gestricktes Verslein

Gestricktes Verslein
*
Miranda hat für mich 
ein Verslein gestrickt,
das mir viel zu eng ist 
und fürchterlich zwickt.
Ich trage es 
nur ihr zu Ehren,
und würde mich 
niemals beschweren,
dass jede der Maschen 
mich unglaublich juckt
und sich als ein 
stachliger Igel entpuppt,
denn schließlich hat sie 
mir nur Gutes gemeint
und beim Stricken vor Glück 
in die Wolle geweint.

Auswirkung der Meditation

 

Auswirkung der Meditation
*
Ich meditiere jeden Tag und nutze 
dabei sowohl die Atemmeditation 
aus dem Zen-Buddhismus als auch 
eine Visualisierung aus dem 
tibetischen Buddhismus. Mir hilft 
diese Arbeit sehr, mich ruhiger, 
entspannter, aber auch klarer und 
lebendiger zu fühlen. Dabei kann 
ich auf einen langen Weg 
zurückschauen, der mich aus 
Verwirrung und Angst hinausgeführt 
hat in ein Bewusstsein von 
Freiheit und Kraft. Mich 
beschäftigt die Frage, ob die 
Übungen, die ich praktiziere, 
auch einen Einfluss auf die Welt 
haben, der über den direkten 
Einfluss auf meine persönlichen
Kontakte hinausgeht.
Vielleicht gibt es Menschen, die 
Antworten darauf kennen.
Es würde mich freuen, diese zu 
lesen.
Herzlichen Dank.
Jürgen

Vorstellungskraft entwickeln

Um etwas zu schreiben, benötigt 
man Vorstellungskraft. Je klarer 
und lebhafter die Bilder sind, 
die man vor dem inneren Auge 
sieht, desto überzeugender 
lässt sich das so in der 
Fantasie Erschaffene mitteilen.
Die Fähigkeit, Bilder vor dem 
inneren Auge zu erschaffen, oder 
sich an diese zu erinnern, kann 
man trainieren. Zunächst muss 
man sich im Körper verankern, 
um den Kontakt mit der 
Wirklichkeit nicht zu verlieren. 
Dazu richtet man die 
Aufmerksamkeit wie den 
Lichtkegel einer Taschenlampe
auf die Fußsohlen und tastet 
so einmal den ganzen Körper
ab, von den Füßen bis zum 
Schädeldach. Hat man auf diese 
Weise die Verbindung mit dem 
Körper gefestigt, stellt man 
sich eine weiße Leinwand vor, 
die sich auf Augenhöhe 1 Meter 
vom Körper entfernt befindet.
Um die Imaginationsfähigkeit 
zu entwickeln, beginnt man
am besten mit einfachen 
Formen. Eine waagerechte 
schwarze Linie ist für den 
Anfang gut geeignet. Stell 
dir vor, dass die horizontale 
Linie sich in die Senkrechte 
dreht, indem der linke Endpunkt 
nach oben wandert und der 
rechte Endpunkt nach unten. 
Wenn der nun untere Endpunkt 
der Linie weiter nach links 
wandert, hast du wieder eine 
horizontale Linie vor deinem 
inneren Auge. Lass die Linie 
sich immer wieder drehen. Nehme 
jetzt andere geometrische Formen 
als Imaginationsobjekt. Stelle 
dir Dreiecke vor, die sich 
drehen, oder Kreise bzw. Reifen, 
die auf einem imaginären Boden 
entlangrollen. Lass die Objekte 
in verschiedenen Farben vor dir 
erscheinen. Entwickle deine 
Fähigkeiten weiter, indem du 
dir dreidimensionale Formen 
vorstellst, um die du im 
Geiste herumläufst wie um ein
Hochhaus oder eine Litfaßsäule.
Das Bewusstsein ist wie ein 
Auge, das über einer Wasserfläche
schwebt. Das Wasser symbolisiert 
das Unterbewusstsein, aus dem
Bilder, Gefühle und Gedanken 
aufsteigen und auf dieses Weise
bewusst werden können. Du kannst 
dir vorstellen, dass du am 
Rande eines Sees auf einer
Bank sitzt und auf die 
Wasseroberfläche schaust.
Der Wind bewegt die 
Wasseroberfläche. 
Regentropfen fallen und so
entsteht Bewegung. Du siehst 
viele Bilder auf der 
Wasseroberfläche. Du erkennst 
in dem bewegten Wasser 
menschliche Gestalten, Männer 
und Frauen, alte und junge 
Menschen, Kinder, Erwachsene 
und Greise. Konzentriere 
dich auf eine Person, die 
du genauer betrachten möchtest.
Wie sieht diese Person aus? 
Ist es ein Mann oder eine 
Frau? Wie alt ist diese 
Person? Wie ist sie 
gekleidet? Wo lebt sie? Mit 
welchen Menschen hat sie 
beruflich und privat Kontakt? 
Welchen Beruf übt sie aus?
Es gibt etwas, das diese 
Person dringend braucht, 
etwas, dessen Fehlen sie
als Mangel empfindet. 
Versuche herauszufinden, 
was das ist und was die
Person tun würde, um 
diesen Mangel zu beseitigen.
Beginne dann, dich zu 
dehnen und zu strecken, 
öffne die Augen und schreibe
einen Text, in dem du diese 
Person über ihr Leben 
befragst und notierst,
was sie sich am meisten wünscht.
*
Wichtig ist auch, die 
Filterfunktion des 
Bewusstseins herabzusetzen, 
damit die Bilder, die in 
diesem Prozess aufsteigen 
können, nicht durch Erwartungen 
oder Befürchtungen 
beeinträchtigt werden.

Pechvogel

Pechvogel
*
Er lebte in einer Mülltonne unter 
der Brücke – seit dem Tag, an dem 
ihn seine Freundin vor die Tür 
gesetzt hatte. Freunde hatte er 
keine mehr. Er war ein missmutiger 
Zeitgenosse, unfähig, mit anderen 
in Frieden zu leben. Immer hatte 
er an allem etwas auszusetzen, 
und so ließ sich leicht 
nachvollziehen, dass er in seinen 
58 Lebensjahren bereits 23 
Wohnungen bewohnt hatte – oder 
waren es nur 21? Genau wusste er 
es nicht mehr. Als seine Eltern 
ihn vor die Tür setzten, weil er 
ständig über das Essen nörgelte, 
nahm ihn seine Großmutter 
vorübergehend auf. Doch auch 
sie entzog ihm bald den 
Haustürschlüssel – er konnte es 
nicht lassen, ihre Wohnung nach 
seinen Vorstellungen umzuräumen.
Im Wohnheim für junge Männer 
hielt er es nicht lange aus. 
Die Gemeinschaftsküche war 
eine Zumutung, und seine 
Mitbewohner weigerten sich 
standhaft, seinen strengen 
Reinigungsanweisungen Folge zu 
leisten. Eine Freundin, bei 
der er sich einquartiert hatte, 
warf ihn wütend hinaus, als er 
begann, sich an ihrer 
Haushaltskasse zu bedienen. Nun 
saß er also unter der zugigen 
Brücke, vor seiner leeren 
Mülltonne, wie ein moderner 
Diogenes – und grübelte. Was 
war in seinem Leben bloß 
schiefgelaufen? Was hatten 
all diese Leute nur falsch 
gemacht? fragte er sich.


 

Scherenschnitt

Scherenschnitt
* 
Ein Gedicht, scharf 
ausgeschnitten
aus geschöpftem, 
feinem Bütten-
papier,
das mir
ein wirklich guter 
Freund geschenkt,
freut sich, dass es 
am Fenster hängt.

Es sieht aus wie 
ein Scherenschnitt,
in dem ein Freund 
den and'ren tritt.
Dabei war es 
nicht so gemeint,
wie es auf dem 
Papier erscheint.

Wer sich im Scherz 
am Freund versündigt,
dem wird die Freundschaft 
bald gekündigt.
Kunst darf gewiss 
nicht alles machen,
damit die Leser 
schallend lachen.

Darum seid achtsam, 
wenn ihr dichtet,
damit ihr niemanden 
vernichtet,
im Glauben, Scherzen 
sei erlaubt.
Denn schneller, als ihr 
es jetzt glaubt,
lebt, was in diese 
Welt gegeben,
auch ungewollt: 
ein Eigenleben.

Vielleicht gäbe es 
dies Gedicht
deshalb womöglich 
besser nicht.

Die neue Freude

Die neue Freude
*
Eine neue Freude 
klopfte an meine Tür. 
Als ich sie einließ, 
stürmten ein Engel 
und ein Teufel herbei.
Der eine rief: „Es ist eine Gnade!“, der andere warnte: „Es ist eine Sünde!“
Doch wer was gesagt hat, das weiß ich nicht. *

Sich fokussieren

Ich meditiere und versuche,
meine Aufmerksamkeit an einem
Punkt zu halten, mich nicht
forttragen zu lassen von den
Bildern, Gedanken und Gefühlen 
in meinem Geist oder den
lärmenden Ablenkungen in
meiner Umgebung. Bellende Hunde,
das pneumatische Keuchen der 
Busse, das Keckern der streitenden
Elstern - all das ringt um meine 
Aufmerksamkeit. Denn Aufmerksamkeit 
ist Energie. Sie ist lebensnotwendig, 
um zu überleben. Kinder, die keine
Aufmerksamkeit bekommen, verwelken
wie herbstliches Laub, das nicht
mehr vom Baum ernährt wird. Auch
in meinem Geist gibt es hungrige
Elemente, die um Beachtung buhlen: 
der Zorn auf X, meine Liebe zu Y, 
meine Sucht nach Z. Sie alle wollen
genährt werden. Und ich stehe vor der
Entscheidung: Füttere ich den Zorn,
die Liebe oder die Sucht.
Oder trete ich zurück, lasse los
und tauche ein in den träumenden
Urgrund?
Die Verlockung ist groß - als könnte
ich meine Fühler, diese tastenden 
schmetterlingsgleichen Ausstülpungen, 
mit denen ich die Düfte der 
materiellen Welt schmecke, 
zurückziehen in die unendliche Weite 
des inneren Raumes, aus dem alles 
geboren wird.
Doch noch fordert die materielle
Welt ihren Tribut. Ich muss
arbeiten, um Wohnung, Essen und
Kleidung zu bezahlen. Sie zieht
mich zurück in die Wirklichkeit.
Aber morgen werde ich wieder auf
meinem Leuchtturm sitzen. Und mich
in dem verankern, was darüber
hinausreicht.

Wie Schreiben sich selbst entfaltet

Wie Schreiben sich selbst entfaltet
*
Das ist genau der Trick: Du musst 
nichts zu sagen haben, um etwas 
zu schreiben. Sobald du beginnst, 
fließen die Ideen zu dir und 
entfalten sich nach und nach. 
Denk nicht darüber nach, worüber 
du schreiben sollst – zerbrich 
dir nicht den Kopf. Bleibe im 
Schreibfluss und lass dich 
nicht aus der Ruhe bringen.
Sei gesammelt und konzentriert. 
Schreibe ein Wort nach dem 
anderen, so wie du beim 
Spazieren gehen einen Schritt 
nach dem anderen setzt. Indem 
du weitergehst, erkundest du 
die Welt in all ihrer Vielfalt.
Vertraue darauf: Die Ideen 
kommen beim Schreiben. Aber 
dafür musst du bereit sein, 
auch Unperfektes zuzulassen. 
Habe keine Angst davor, etwas 
zu schreiben, das anderen 
nicht gefällt. Sei sogar 
bereit, den größten Unsinn zu 
schreiben, den die Welt je 
gelesen hat. Denn genau darin 
liegt die Freiheit – aus der
großartige Fantasy und zarteste 
Poesie entstehen kann.

Bilder erzeugen

Bilder erzeugen
*
Bilder werden vom Dichter 
erschaffen, gezeichnet auf die 
erwartungsvoll weiße Leinwand, 
die der Leser oder der Zuhörer 
vor seinem inneren Auge sieht.
Weiß wie eine schneebedeckte 
Landschaft oder ein mit Mehl 
bestäubter Tisch, so sieht 
diese Leinwand zunächst aus.
In diese weiße Fläche hinein 
zeichnet der Dichter Spuren, 
malt Zeichen, die vom Leser 
gedeutet und in Bilder 
übersetzt werden. Fußspuren 
im Schnee oder Handabdrücke 
im Mehl, das auf dem Tisch 
liegt. Damit der Dichter in 
die Fantasie des Lesers hinein 
zeichnen kann, muss er 
zunächst seinen eigenen Raum 
der Imagination erschaffen.
Er muss ein Energiefeld 
aufbauen, das sich wie ein 
Hologramm verhält und die 
Illusion einer Realität im 
Leser, im Zuhörer erzeugt.
Wenn der Leser die Worte 
liest, vollzieht sich in 
ihm, was sich zuvor im 
Dichter vollzogen hat. Die 
Worte speichern die Energie, 
die der Dichter erzeugt hat, 
als er den Text schrieb.
Sie speichern die Bilder, 
die er vor sich sah, als er 
die Hand über das Papier 
gleiten ließ. Ich erschaffe 
vor dem Schreiben zunächst 
ein Energiefeld, aus dem 
heraus sich die Worte
gestalten, die beschreiben, 
was ich sehe. Ich atme 
ruhig ein und aus, um das 
Feld aufzubauen und sehe 
vor mir: eine Rose, die 
sich in aufblühender 
Verwandlung enthüllt. Tau 
liegt auf ihren Blättern, 
die sich langsam und 
genussvoll der Sonne 
entgegen drehen. Indem ich 
diese Rose erschaffe, 
ermögliche ich es den 
Lesern, sie in ihrem Geist 
auch zu erschaffen. Die 
Bauanleitungen weichen bei 
jedem Menschen ein wenig ab.
Es gibt allgemeingültige 
und sehr persönliche 
Assoziationsketten, die bei 
der Erschaffung der 
bilderreichen Erfahrungen 
tätig werden. Darauf 
zugreifen zu können, ist das 
Geheimnis der Dichtkunst, 
welche die Menschen packt und 
in andere Welten zu führen 
vermag oder die alltägliche 
Welt in einem völlig neuen 
Licht erscheinen lässt.