Muschelmond und Tropfentraum

Muschelmond
und Tropfentraum
*
"Mama, wo kommen 
die Babys denn her?"
"Sie wachsen in Muscheln 
dort unten im Meer!
Von dort tauchen sie 
fröhlich zu uns herauf
und nehmen ein Leben 
mit Schwerkraft in Kauf!"

"Ich glaube, der Mond 
hat die Babys gemacht!
Als Tautropfen schweben sie 
sanft durch die Nacht
und landen auf 
sehnsuchtsvoll
wartenden Bäumen, 
wo sie dann beginnen, 
ihr Leben zu träumen!" 

"Das träumst du nur, 
mein fantasievolles Kind,
weil Kinder gerüstet 
mit Hoffnungen sind,
mit denen sie mutig 
die Zukunft gestalten,
die leider nicht das ist, 
wofür wir sie halten!" 
 

Lichtgedicht

Lichtgedicht 
*
Unter der Eiche 
liegt bleich ein Gedicht.
Es hat keinen Puls 
und es atmet auch nicht.
Es denkt: "Ich bin tot! 
Darum ist mir so kalt!
Warum lieg' ich hier 
in dem schaurigen Wald?"

Ein Wanderer findet 
die blutleere Dichtung
und zerrt sie hinaus 
auf die sonnige Lichtung.
Doch kaum hat die Sonne 
den Leichnam berührt,
erkennt das Gedicht, 
dass es sich wieder spürt.

Wird schwindenden Versen 
Beachtung geschenkt,
erwachen selbst Tote, 
weil man an sie denkt.

Der Leib dient dem Leben

Der Leib dient dem Leben
*
Auch wir werden einst 
von der Erde gefressen.
Für Maden sind wir 
dann die Delikatessen.
Sie fressen sich satt, 
werden dick und gediegen,
verpuppen sich kunstvoll 
und werden zu Fliegen.

Das Leben gibt Leben, 
indem es uns nimmt.
Wir selbst werden Futter. 
So ist es bestimmt.
Der Leib dient dem Leben, 
die Seele dem Geist,
indem sie den Traum der 
Unsterblichkeit speist.

Gestohlenes Rezept

Gestohlenes 
Rezept
*
1. Die Werkstatt
Im Dämmerlicht 
rührt er mit Fleiß
Zutaten, die nur 
er noch weiß,
in jenen Topf, 
gefüllt mit Kraft,
in dem er 
Hochgenuss erschafft.
Ein Tröpfchen hier, 
ein Hauch von Duft –
Magie erfüllt 
die warme Luft.
Der Gaumenschmaus 
entsteht nur hier
nach dem Rezept 
auf dem Papier.

2. Das Rezept
Ein Buch mit Goldschnitt, 
schön und alt,
verleiht Rezepten 
die Gestalt,
nach denen 
meisterlich verfährt,
wer Künstler ist 
und Menschen nährt.
Jedem Rezept 
hinzugefügt
ist stets ein Teil, 
der sie betrügt:
die Diebe, die es 
stehlen wollen.
Sie kriegen, was 
sie kriegen sollen.
„Wer dies mit Habgier 
je begehrt,
erlebt, was ihm 
dann widerfährt!“

3. Der Dieb
Im Mantelgrau 
mit spitzem Blick
naht sich ein Gauner, 
wittert Glück,
stiehlt das Rezept 
der Schokolade –
kennt kein Erbarmen, 
keine Gnade.
Er sticht - eiskalt - 
den Meister tot.
Die Süße färbt 
sich blutig Rot.
Man sieht den Meister 
aufwärts schweben:
"Ich werde dir 
niemals vergeben!"

4. Die Zubereitung
Der Dieb rührt, kocht, 
ist voll Elan
und stolz auf 
seinen Schoko-Plan!
folgt dem Rezept 
ganz ungeteilt,
damit der Ruhm 
bei ihm verweilt.

5. Das Bankett
Die Gäste will 
er überzeugen,
damit sie sich 
vor ihm verbeugen
und ihn wegen 
der Süße ehren,
gemacht, um ihre 
Lust zu mehren.
Zum Festbankett 
erscheinen Gäste,
erwarten nur 
das Allerbeste,
sie schmatzen, und 
mit gutem Grund:
"Ein Meister!" geht's 
von Mund zu Mund.

6. Die Bestrafung
Doch bald: ein Donnern 
in den Bäuchen
will den Genuss der 
Lust verscheuchen.
Ein nie gekanntes, 
wildes Grummeln,
zwingt sie, sich vor 
dem Klo zu tummeln,
denn, was der Dieb 
ja nicht bedachte,
als er die 
süße Speise machte:
"Dem Mann, der gierig 
Gutes raubt,
wird Schokolade 
nicht erlaubt!"
*

Die Akazienphilosophie

Akazienphilosophie
*
Ein paar 
hungrige Giraffen
machen sich am 
Baum zu schaffen,
der am Rand der 
Steppe steht,
hitzefest, vom 
Wind umweht.

Die Akazienblätter 
spüren,
wie die Zähne 
sie berühren,
sie zerreißen, 
beißen, kauen,
um sie lustvoll 
zu verdauen.

Doch ein Baum, 
der nicht vergisst,
-"Was mach ich, wenn 
man mich frisst?"-
schickt ein Gas, 
so fein und klar,
an seine 
Geschwisterschar,

warnt die Brüder 
und die Schwestern.
Schließlich ist er 
nicht von gestern.
"Gib gut Acht - 
denn jetzt und hier
kommen Fresser 
nah zu dir."

Alle Bäume 
sind gewarnt,
haben sich 
sofort getarnt,
machten ihre 
Blätter bitter
gegen die 
Giraffenritter.

Doch ein Baum fragt 
sich im Stillen:
"Muss ich nicht 
den Hunger stillen,
der die Tiere 
zu mir treibt,
auch wenn nichts mehr 
von mir bleibt?

Ist es richtig, 
mich zu rüsten,
mich vielleicht 
damit zu brüsten,
dass ich sehr viel 
schlauer war
als diese 
Giraffenschar?"

Nachdenklich ließ 
er sich fressen,
fern von 
Eigeninteressen.
Philosophisch 
von Natur,
blieb von ihm 
nicht eine Spur.
 

Des Wirsings Weisheit

Des Wirsings 
Weisheit

Im Garten stand 
zu guter letzt
nur noch ein Wirsing, 
gelb und alt,
faltig und klug, 
doch unterschätzt.
Es wurde dunkel, 
nass und kalt.

"Savoyer Kohl nennt 
man mich wohl
und denkt, ich sei 
von innen hohl.
Doch stetig wuchs mir 
Schicht um Schicht
die Weisheit, die jetzt 
zu euch spricht.

Ich schaute, fest 
verwurzelt hier,
auf Schnecke, Spatz 
und jedes Tier,
das nach dem Sinn 
des Lebens fragte,
weil Weltverdruss 
ihm nicht behagte.

So reiften in mir 
Blatt und Sinn –
bis plötzlich dann, 
ganz mittendrin,
Erkenntnis reifte: 
Sinn des Lebens
ist, froh zu sein - 
nichts ist vergebens.

Dann kam ein Mensch 
mit schnellen Schritten
hat meine Blätter 
abgeschnitten.
Doch keine Angst 
durchdrang mein Herz,
nur eine leise 
Form von Schmerz:

Was nützt die Weisheit, 
tief und klar,
wenn sie niemals 
zu hören war?
Wie teile ich, 
was ich gelernt,
wenn man mich aus 
der Welt entfernt?"

Doch dann wird er 
gefüllt, gerollt,
gewürzt mit Zwiebeln, 
gelb wie Gold,
und nicht zermatscht, 
nein: fein serviert,
im Ofen liebevoll 
garniert.

Er dachte noch 
im Bratensud:
„Nahrung zu werden 
tut so gut.
Wenn man mich achtsam 
sanft zerkaut
und meine Weisheit 
dann verdaut,

lebe ich weiter - 
Blatt für Blatt -
in dem, der mich 
gegessen hat.
Ein Wirsing, der sein 
Ziel erreichte,
bevor er wirkungslos 
erbleichte.

Radieschenseele

Radieschenseele
*
Ins Dunkel fiel 
ein Samenkorn,
verloren, klein 
und ungebor'n.
Unter des Erdreichs 
warmer Haut
wurde mein Körper 
aufgebaut:

Radieschen bin ich, 
rot und rund,
mit Biss und Schärfe, 
kerngesund:
Ein Wurzelwesen, 
stolz und klar,
das einst ein 
Samenkörnchen war.

Ich danke jener 
Lebenskraft,
die diesen roten 
Leib erschafft,
der täglich wächst, 
so rot und prall.
Ein Wunder im 
perfekten All!

Doch bange ich: 
Was, wenn zuletzt
man mich nur auf 
den Teller setzt
als bunter Fleck, 
der, mir zum Hohn,
nur dient als 
Tisch-Dekoration?

Nein, lieber sei ich 
roh verspeist
damit es ganz 
am Ende heißt:
Wir haben sie 
mit Lust gegessen!
Radieschen sind 
Delikatessen!

Die empörte Ananas

Auszug aus 
"Die empörte Ananas"

(Akt I, Szene I – 
Ein dunkler Obstkorb 
in der Küche)

CHORUS:
O Frucht, gekrönt mit 
goldner Stachelzier,
die süßlich lockt – du 
trägst ein Tier in dir!
Beim Kauen war uns 
keinesfalls bewusst,
dass wilder Zorn da 
bebt in deiner Brust!"

ANANAS (allein):
Was bin ich denn? 
Ein bloßes Schnittobjekt?
Ein Fruchtstück, achtlos 
nebenbei gesnackt?
Bei meiner Krone, nein! 
Ich schwör's beim eignen Kern:
Nur dem, der achtsam kaut, 
dien ich wie einem Herrn.

ANANAS (zum Apfel):
Du rundes Ding, 
das jedermann genießt –
hat man dich je auf 
Speeren aufgespießt?
Ich ward zerhackt, 
entsaftet – ach, genug!
Des Menschen Tafel 
ist voll Lug und Trug.

APFEL (zitternd):
O Ananas, du bist 
nicht wie zuvor!
Aus deinem Fleisch 
quillt purer Zorn empor!

ANANAS:
So höret nun, ihr Früchte, 
die geknechtet:
Das Schälmesser sei 
zukünftig geächtet.
Ich wanke nicht, 
ich steh zu meiner Haut –
Folgt mir, ihr Schwestern, 
wenn ihr mir vertraut.

CHORUS (flüsternd)
Doch in den Körben 
überall im Haus
macht man empörten 
Früchten den Garaus.
So manche Frucht, die 
sich zur Freiheit wand,
verschwand zermalmt 
durch grobe Menschenhand.

Die zickige Zitrone

Die zickige 
Zitrone

Hoch oben hängt sie, 
gold und rund,
mit keckem Blick 
und frechem Mund.
„Ich bleib hier hängen, 
keine Frage –
ich plansch doch 
nicht in Limonade!“

Die Sonne küsst 
ihr gelbes Kleid,
sie streckt sich 
wohlig, ist bereit,
ihr Leben sonnig 
zu genießen.
Nichts Störendes 
wird sie verdrießen.

Ein Pflücker kommt 
mit einem Sack,
Zitrone zischt: 
„Hau ab, du Pack!
Fasst du mich an, 
versprech ich dir -
spritze ich Säure, glaube mir!"

Da lachten Äpfel, 
Birn’ und Pflaumen:
„Zitronen sind 
nichts für den Gaumen!
Sie werden an dem 
Baum versauern!"
Kichern sie 
ganz ohne Bedauern.

Die Kirschen 
giggelten im Chor:
„Sie denkt, sie 
hat genug Humor,
doch bald verschrumpelt 
sie am Baum.
Urlaub? Von wegen! 
Aus der Traum!"

Der Sommer ging, 
der Herbst zog ein,
der Wind fuhr kühl 
ins Fruchtgestein.
Die Äpfel reisten, 
reif und rund,
in Körben fort – 
von Mund zu Mund.

Nur die Zitrone 
hing allein
und einsam auf 
dem Bäumelein.
So endete ihr 
Sommertraum
verschrumpelnd 
oben auf dem Baum.