Auf der Kräuterinsel
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Sie schaute aus dem geöffneten
Fenster und sog den milden
Kräuterduft ein, den der Wind
plötzlich vom Fluss herübergetragen
hatte. Auf der Insel dort draußen
schienen Kräuter zu wachsen. Minze
konnte sie deutlich riechen
und etwas, das sie an Salbei erinnerte,
aber eine Spur bitterer war. In der
Nacht träumte sie von den duftenden
Pflanzen. Schon früh am nächsten
Morgen nahm sie eines der Ruderboote
und nahm Kurs auf die Insel - jene
Insel, auf der eigentlich, nach der
lang anhaltenden Dürre und einem
verheerenden Brand keine Natur mehr
zu erwarten gewesen war. Doch es gab
noch einen Anlegesteg, an dem sie das
Boot festmachen konnte, und einen Pfad,
der sie in den verstümmelten Wald
führte. Der Kräutergeruch wurde
intensiver und bald entdeckte sie einen
kleinen Garten, der sich auf einer
ehemaligen Lichtung ausbreitete.
Flache Steine, als Trittplatten in die
Erde eingelassen, führten mitten durch
das Beet bis zu einem Altarstein, der
wie ein kleiner Obelisk geformt war.
Daneben stand eine einfache Bank. Sie
setzte sich und bemerkte vor dem
Obelisken eine Steinfigur auf dem
Boden: ein Mann mit überkreuzten
Beinen und zur Schale gefalteten
Händen vor dem Bauch. Die Ohren
waren wie die eines Elefanten ausgeformt
und sein Blick freundlich und klar. Sie
kannte das Gesicht. Es war ihr schon
öfter im Traum erschienen und erfüllte
sie jedes Mal mit großer Ruhe. Die Fülle
der Katastrophen, die über die Erde
hereingebrochen waren, erschien durch
seine Präsenz in einem anderen Licht
- als seien sie Mahnung und Hoffnung
zugleich. Alles in ihr wurde still.
Und sie vernahm eine feine, innere
Stimme, die sie zuletzt in ihrer
Kindheit gehört hatte. Eine Stimme,
der sie damals nicht mehr lauschen
durfte, weil man ihr verboten
hatte, ihr zu vertrauen. Sätze wie:
"Das sind nur Hirngespinste!"
oder "Das bildest du dir ein!"
hatten sie an sich selbst zweifeln lassen.
Doch jetzt war die Stimme wieder da.
Und diesmal würde sie üben, ihr zu folgen.
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