Im Bahnhof

Meistens gelang es ihm. Er versuchte, immer den Abstand von 100 Zentimetern zu anderen
Menschen zu wahren. Was zur Folge hatte, dass er sich auch darum bemühen musste, andere
nie näher als einen Meter an sich heranzulassen. Niemanden. Und das hieß in letzter
Konsequenz: KEINEN! In großen Menschenmengen erwies sich das als schwierige Angelegenheit.
Vor allem hier im Bahnhof war die Einhaltung der Regel eine große Herausforderung. Der
Mann links neben ihm wich einer herankommenden Person nach rechts aus, sodass Vitus sich
ebenfalls nach rechts bewegen und an die Mauer drücken musste. Weil ihm nun aber von vorne 
eine junge Frau entgegenkam, musste er an der Mauer entlang rückwärts gehen, bis er bei einem
Blick nach hinten über die Schulter erkannte, dass von dort ebenfalls eine Person in seine
Richtung marschierte. Ihm blieb nur der Weg nach oben. Er suchte in der Mauer nach Kanten und 
Vorsprüngen, die ihm den Abstand wahrenden Weg nach oben erleichterten. Unter ihm versammelte
sich eine staunende Menschenmenge, um seinen Aufstieg zu beobachten. Er schwitzte und seine
Hände wurden feucht. Immer wieder war er kurz davor, abzustürzen. Einige Zuschauer, angespornt
durch sein sportliches Vorbild, folgten ihm und brachten ihn so in Bedrängnis. Einige Zuschauer
applaudierten. Nur eine ältere Dame erkannte seine Not. Sie rief von unten zu ihm herauf:
"Die Pandemie ist vorbei! Sie müssen keinen Abstand mehr halten! Wir sind inzwischen alle geimpft!"
Vor lauter Erleichterung verließ ihn seine Kraft und er stürzte in die Tiefe. Doch die
Menschenmenge bildete blitzschnell mit all ihren nun rund gebogenen Rücken eine elastische
Matratze und fing ihn auf.
"Wenn wir eines gelernt haben in der Pandemie!" frohlockte die alte Dame.
"Dann ist es, zusammenzuhalten!"
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