Rotweißchen

Rotweißchen
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Mein Name ist Rosa Dolores Kronenkamm. Ich bin die Königin dieses
leider noch kleinen Landes Kokolores auf dem Kontinent Entribu.
Die erste Gattin meines Mannes, die vor mir die Landesangelegenheiten
regelte, ist vor zwei Jahren gestorben worden und hat eine Tochter
hinterlassen, deren Aufzucht nun meiner Pflege unterliegt. Sie
ist hübsch anzusehen und wegen ihres liebreizenden Wesens fliegen
ihr alle Herzen zu. Alle Herzen fliegen ihr zu, nur das meine möchte
sich nicht dazu herablassen, ihr zu Füßen zu liegen, denn es blickt
neidisch auf ihre langsam erblühende Schönheit und die straffe Haut
ihrer sich aufspannenden Jugend. 
Ich bin keineswegs ein Kind des Glückes gewesen und musste mir alles, was
ich im Leben erreicht habe, schwer erarbeiten. In meiner Kindheit habe
ich nie die Liebe fürsorgender Eltern erfahren und verließ ihr Haus,
sobald ich achtzehn Jahre alt war. Mein Vater hat mich immer wieder mit dem 
Gürtel geschlagen und Mama hat mich oft hungern lassen. Das hat mein Herz
hart und widerstandsfähig gemacht. 
Nach meiner Flucht aus dem Elternhaus begegnete ich auf dem Tafelberg
im Regenbogenwald einer alten Lady, die mich bat, ihr Gepäck zu tragen.
Es war ein Test, wie sich später herausstellte, denn die alte Dame
suchte eine Hilfe für ihren Haushalt und eine Schülerin, die sie
in ihre magischen Künste einweihen konnte. Sie hielt mich für geeignet
und so begann eine mehrjährige Lehrzeit, in der Mirabella mich mit den
geheimnisvollen Geheimnissen der Naturfrauen vertraut machte. Zum Ende
meiner Lehrzeit schenkte sie mir einen Spiegel, der die Fähigkeit besaß,
auf jede Frage eine wahrheitsgemäße Antwort zu geben.
Dieser Spiegel wurde mein Gefährte und ersetzte mir sowohl den Liebhaber
als auch die Familie, auf die ich aufgrund meiner Lebenserfahrung nie
großen Wert gelegt habe. 
Wenn ich Holz für das abendliche Lagerfeuer benötigte und einen sicheren
Platz, um mein Lager aufzuschlagen, befragte ich den Spiegel, und das
Bild des Platzes erschien in seiner glänzenden Fläche. Sein Rat kam immer
in Bildern, aber manchmal sprach er auch zu mir, indem er seine Kristalle
in Schwingung versetzte. Wenn ich mich einsam fühlte, sprach ich zu ihm
und stellte ihm Fragen über den Sinn meines Lebens. Ich verstieg mich sogar
so weit, ihn eines Tages zu fragen, ob ich wohl schön anzusehen wäre.
"Du bist die Schönste im ganzen Land!" antwortete er mir. Zuerst glaubte
ich ihm nicht, weil meine äußere Erscheinung mich überhaupt nicht entzückte. 
Aber da er in anderen Punkten stets die Wahrheit gesagt hatte, begann ich, ihm
zu glauben und mich schön zu finden. Ich wurde eitel und es bereitete mir großes
Vergnügen, mir mehrmals täglich anzuhören, wie schön ich sei. 
Doch mein unstetes Leben ohne einen festen Lebensmittelpunkt stellte mich
irgendwann nicht mehr zufrieden. So begann ich, den Spiegel nach Berufsaussichten
zu befragen und nach Vorschlägen zu einer anderen Lebensart, die mich vielleicht
glücklicher werden ließ. "Warum wirst du nicht Königin?" fragte er mich eines Tages.
"Kann man das denn so einfach werden?" fragte ich. "Ja, hier habe ich eine Anzeige gelesen,
in der ein König eine Zweitmutter für seine Tochter sucht, da seine Gattin krank geworden ist."
Das der Spiegel mit anderen Spiegeln vernetzt war und dass sich in ihren Spiegelflächen
alles spiegelte, was es auf der Welt gab, begriff ich erst an diesem Tag. Sogar 
Zeitungsausschnitte, mimische Bewegungen von Gesichtern, Dialoge zwischen Liebespaaren
...man konnte auf das Wissen der ganzen Welt zugreifen. 
"Das nennt man 'Googlen'!" klärte der Spiegel mich auf. 
Gegoogelt, getan! machte ich mich auf den Weg in das in der Anzeige genannnte Königreich
und verzichte hier auf die Schilderung all der magischen Tricks, mit denen ich den König
dazu brachte, mich zu seiner Zweitfrau zu machen. Er war eine leichtgläubige Person und
es bereitete mir keine großen Mühe, ihn meinem Willen zu unterwerfen. Bei seiner Tochter fruchtete
meine Magie aber in keiner Weise. Sie war einfach zu wahrheitsliebend, um für die dunkle Seite
der Macht anfällig zu sein. Es war mir ein Leichtes, die Erstfrau des Königs zu beseitigen, da
sie ja ohnehin schon gesundheitlich angeschlagen war. Nun war ich also einen Schritt weiter
gekommen auf dem Weg zur Besteigung des Thrones. Mein Spiegel versicherte mir weiterhin, die Schönste 
im ganzen Land zu sein. Aber als ich die Idee hatte, die Frage zu stellen, ob ich die Klügste
sei, zögerte ich zunächst und nahm dann Abstand davon.     
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Fortsetzung folgt
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