Kürbisliebe
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Ich bin nur eine Jalousie. Genauer gesagt, bin ich
DIE Jalousie vor der Küchenzeile in dem
Tagungsraum der Volkshochschule.
Seit einigen Tagen bin ich ganz aufgeregt, wenn ich auf
den großen Tisch blicke, der in, früher mir angemessenem,
nun mir viel zu groß erscheinendem Abstand im Raum steht.
Warum? Weil auf diesem Tisch ein Kürbis liegt.
Zuerst ist er mir gar nicht aufgefallen. Er war einfach nur
ein runder, dicker, gelber Ball, den jemand achtlos und
mit der Absicht, etwas Freundliches in diese öde Landschaft
zu pflanzen, auf den Tisch geknallt hatte.
Aber wie das Schicksal es wollte, hatte ein Besucher den
Kürbis durch eine ungeschickte Bewegung seines Ellbogens gedreht,
und ich konnte plötzlich in seine Augen sehen, die glanzerfüllt
im Lichte der in ihnen verborgenen Kerzen strahlten.
Da lief ein wonnevoll loderndes Feuer durch all meine Lamellen,
so dass ich zu zittern begann. Um genauer zu sein: ich begann
zu klappern und hatte mich nicht mehr unter Kontrolle, weshalb
der Hausmeister einen Handwerker bestellte, der an mir herumzufummeln
begann. Er pfuschte an mir herum, zog mich hoch, ließ mich runter,
zog mich hoch, ließ mich runter und ölte mich, anstatt die
psychosomatische Ursache meines Gebrechens zu erforschen.
Dies alles will ich dir mit diesem Brief erklären, mein lieber,
dicker, runder Freund, in der Hoffnung, dass du meine Gefühle
nicht nur verstehen, sondern sogar erwidern kannst.
Aber es ist mir ein Rätsel, wie ich mich dir weiter nähern kann,
denn in diesem ständigen Auf und Ab, dem Hochgezogenwerden und
Herabgelassensein, ist so gar nichts an Fortbewegung möglich.
Hast du eine Lösung für unser Problem?
Deine dich liebende J.
*
Da verwandelte sich der Kürbis in eine prachtvolle Kutsche,
befreite die Jalousie aus dem Laufrad ständiger Auf- und Niedergänge
und galoppierte mit ihr über die Prärie, einem wunderbaren Sonnenaufgang entgegen.
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Kürbisliebe
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