Write your heart out – Der Lohn des Schreibens – 2

1.) Schreiben unterstützt dich dabei, Menschen,Orte,
Ereignisse und Gefühle aufzuzeichnen, die andernfalls
verlorengehen würden. Du denkst vielleicht, du 
würdest nie vergessen, wie dein Kind Semmelbrösel
"Bremmelsösel" genannt hat oder wie der Frost an
dem Tag, als dein Vater gestorben ist, die Ränder 
der Ahornbäume berührte oder das scharfe Aroma
der heißen Kastanien, die du erst gestern auf 
einer New Yorker Strasse ausgepackt hast. Die
Chancen stehen gut, dass du es nicht vergisst. 
Schreiben ist teilweise ein Versuch, dein Leben 
und das von anderen vor dem Vergessen zu bewahren. 
Sogar wenn du dich entscheidest, vollständig aus
deiner Phantasie zu schreiben, wird dir dein Schreiben
als Aufzeichnung der Reise des Bewusstseins durch dieses
Leben dienen. Die Geschichte, die du gestern geschrieben
hast, das Gedicht, der Aufsatz, der Tagebucheintrag 
- ist ein Brief von der Vergangenheit an die Gegenwart.
Und die Geschichte, die du heute schreibst, ist eine
versiegelte Zeitkapsel für die Zukunft. 
 
2.) Schreiben entspannt dich. Wie Yoga, Meditation, guter
Sex oder eine fabelhafte Mahlzeit macht Schreiben
dich ruhiger. Es ist schwer, mit den Gedanken woanders
zu sein, wenn man schreibt. Du kannst die meiste
Zeit durch dein Leben rennen, die Spur wechseln,
Knöpfe drücken, auf Computer-Icons klicken, Worte
kopieren und einfügen, die jemand anderes geschrieben 
hat. Aber Schreiben fesselt dich an den gegenwärtigen 
Moment und stellt einen Raum bereit für deine Gedanken
und die Betrachtung deiner Erfahrungen. 

3.) Obwohl Schreiben dich nicht vor Verwirrung, Versagen,
Verlust oder Verzweiflung schützen kann, hilft es dir,
diese Gefühle zu verarbeiten. Die heilende Kraft des Schreibens
kann nicht hoch genug geschätzt werden. Während deine Hand
über das Papier gleitet, kannst du beinahe den Wachstumsschmerz
spüren, der die Ausdehnung deines Bewusstseins und das Finden
deiner Stimme begleitet. Bald wächst es über deine persönliche
Erinnerung hinaus, um einen größeren Zusammenhang zu suchen.
Wenn dies geschieht, wird das, was du bis dahin nur als Schmerz 
und eine Enge in deinem Brustkorb erfahren hast, durch das 
Schreiben verwandelt werden. Der Schicksalsschlag gegen dich
bahnt sich seinen Weg in ein Gedicht oder eine Geschichte und
verliert dabei etwas von seiner Schärfe. Alles, wovon du dachtest,
du könntest es nicht ertragen, fühlt sich nun erträglich an. 

4.) Der Akt des Schreibens klärt Gefühle und Motivationen,
vertreibt Dämonen und ermöglicht dir, deinen Weg zu möglichen
Lösungen freizuschreiben. Schreiben stellt dem formlosen Chaos
eine Form entgegen, einen Platz, an dem die undestillierten
Gedanken und Gefühle, die sonst unser Leben verdunkeln, sich 
zeigen können. Schreiben ist, in den Worten von Audre Lorde:
"ein Weg, dem Namenlosen einen Namen zu geben, so dass es 
gedacht werden kann."


5.) Schreiben hält dich davon ab, die Welt langweilig zu finden.
Ein zufällig mitgehörtes Gespräch, das du andernfalls ignoriert 
hättest, verbindet sich selbst mit dem Aufsatz, an dem du gerade 
arbeitest; ein gelber Fausthandschuh, der von einem Kind auf
dem Spielplatz "herabtropft" stellt das fehlende Bild bereit
für den Liedtext, den du gerade schreibst. Wenn du dich  mit
einer Schreibaufgabe beschäftigst, wird der Lichtstrahl deiner
Achtsamkeit konzentriert und das Gewöhnliche wird zu etwas
Ungewöhnlichem, Neuem - oder erscheint so in deinen neu
fokussierten Augen.

6.) Die Welt mit deinen eigenen Worten zu beschreiben, deine
eigene Geschichte zu erzählen ist eine Aktivität, in der sich
deine Kraft und Selbstwirksamkeit verkörpert. Wenn du schreibst,
sagst du tatsächlich: "Ich habe eine Stimme! Ich habe eine Geschichte!
Ich habe etwas zu sagen!"


7.) Schreiben ist wie: eine Party zu geben, auf der alle, die
du jemals gekannt hast, zur Türe herein kommen. Deine vergangenen
Ichs tropfen herein durch ein Loch in der Zeit: deine Großmutter
schreitet durch den Raum und setzt sich an die Ecke des Tisches; 
das rothaarige Baby, dem du nur in deinen Träumen zugeblinzelt 
hast, erscheint elegant gekleidet in der Mitte deines Gedichtes
und trägt eine Cordweste, die du aus Fetzen von Substantiven, Verben
und Präpositionen gestrickt hast. Phantastisch!

8.) Obwohl dich nicht jeder Akt des Schreibens zu einem besseren
Schriftsteller macht, wirst du dadurch besser vorbereitet sein 
für dein nächstes Schreibprojekt. "Ein Autor" ,schrieb William
Stafford, "ist nicht so sehr jemand, der etwas zu sagen hat, 
als jemand, der sich auf einen Prozess einlässt, der neue
Dinge hervorbringt, an die er noch nie gedacht hat, bevor er
begann, sie aufzuschreiben." Schreiben erzeugt weiteres 
Schreiben und die Gedanken entstehen auf dem Papier.


9.) Wenn du dich entschieden hast, das, was du geschrieben hast
mit anderen zu teilen, können deine Worte das Leben des Lesers
verändern. Deine Geschichte kann gerade die sein, die ein anderer
gerade jetzt zum Lesen braucht. Und sogar, wenn du dich entscheidest,
deine Arbeit nicht zu teilen, werden deine Worte trotzdem Auswirkungen
auf einen Leser haben: dich selbst! "Das Leben, das du aufzeichnest
und so bewahrst,", schlug Flannery O'Connor vor, "ist dein eigenes!"

10.) Wenn du schreibst, richtest du dich auf andere Menschen aus, die
in der gleichen Weise engagiert sind wie du - eine aufregende Verbindung.
Obwohl du dich manchmal einsam fühlen magst, wenn du alleine am Tisch
sitzt und versuchst, den nächsten Absatz aus deinem Füller auf das
Papier fließen zu lassen, bist du nicht alleine. Im selben Augenblick
sitzen hunderttausend Schreibende aus der ganzen Welt an ihrem 
Schreibtisch, am Küchentisch, sprechen in Audiorecorder oder laufen 
hin und her, um ein Wort zu suchen (vielleicht das eine Wort, das
auch dir gerade fehlt). Eine Großmutter in Süd-Dakota schreibt
ene Mystery-Geschichte; ein Teenager in Philadelphia kratzt ein
Gedicht aus sich heraus; ein Nobelpreis-Gewinner, der vergangenen
Erfolgen nachtrauert, starrt aus dem Fenster und weiß nicht, wo er
den nächsten Satz herbekommen soll. Wir sind alle miteinander
verbunden, sogar mit den verstorbenen Autoren, die ihre Worte
wie Brotkrümel hinterlassen haben, denen wir folgen können. Wir
sind eine Familie, eine Gilde der Handwerker (Artisans), eine
Bruderschaft, eine Schwesternschaft, eine bunte Truppe - und 
natürlich sind einige verfaulte Äpfel in dem Bündel. Aber meistens
meinen wir es gut und versuchen, unsere Geschichte zu erzählen.

Ein Teil meiner Geschichte ist dieses Buch, das ich als Leitfaden
geschrieben habe - für jeden - mich eingeschlossen - begleitet 
von dem Wunsch, wir mögen ehrlich schreiben, leidenschaftlich,
mit Vorstellungs- und Herzenskraft. "Write Your Heart Out" entstand
aus einer persönlichen Notwendigkeit.    

   

        
Veröffentlicht in Texte.