Ich möchte meinen Schreibmuskel trainieren. Wie jede andere Fähigkeit, kann ich auch die Kunst des Schreibens weiter entwickeln und verbessern, indem ich sie täglich übe. Einfach drauflos zu schreiben finde ich manchmal sehr befreiend. Aber auf Dauer kann es sehr unbefriedigend sein. Darum suche ich mir Schreibaufgaben, mit denen ich meine Kunst verfeinern kann. Die Aufgabe lautet: Nehme einen beliebigen Haushaltsgegenstand, "betrachte" und "beschreibe" ihn. Mein Freund Michael hat mir neulich erklärt, dass Meditation bedeutet:"Nach innen schauen." und Kontemplation:"Den Blick auf etwas richten, das sich außerhalb befindet." Also Kontemplation - und zwar mit einer Tasse aus meinem Schrank. Es ist eine Espressotasse. Ich glaube, früher hat man Mokkatasse dazu gesagt. Sie besteht aus einem Gefäß, in dem man Espresso serviert. Darum ist das Gefäß oben offen, hat aber unten einen Boden, damit der Espresso nicht hinausläuft. An der Seite befindet sich ein Henkel, das ist eine griffige Verzierung, an der man die Tasse halten und zum Mund führen kann. Die Außenseite der Tasse ist weiß und mit roten Punkten verziert. Wenn ich mit dem Kugelschreiber gegen die Tasse schlage, höre ich einen angenehm hellen Ton, der noch eine Zeitlang nachschwingt. Wenn ich gegen den Henkel schlage, entsteht ein kurzer, flacher Ton. Nun habe ich den ersten Teil meiner Schreibaufgabe erledigt. So wie Fingerübungen oder Tonleitern am Klavier die Fähigkeit des Klavierspielens steigern, kann ich mein Schreiben durch solche Übungen verbessern. Die Tasse soll nun an einem anderen Ort auftauchen. Und was wäre ein geeigneterer Ort für eine Tasse als ein Cafe. Also. Am Fenster, das einen freien Blick auf die Straße gestattet, steht ein runder Tisch aus Holz. Ich sehe ihn gleich, als ich das Cafe betrete und wähle ihn als Arbeitsplatz. Die Vase aus weißem Porzellan mit den roten, schon leicht welkenden Tulpen, schiebe ich an die Seite. Ein pflanzlicher Geruch steigt in meine Nase. Ich hole mein Schreibheft aus der Aktentasche und lege es auf den Tisch, den schwarzen Kugelschreiber daneben. Ich schreibe immer mit einem Stift in der Hand, weil die Hände ein Teil des Gehirns sind und die Neurotransmitter ihre Ideen so durch das Nervensystem in die Finger hinein und durch sie hindurch auf das Papier fließen lassen können. Der junge Mann, der hinter der Theke stand, kommt zu mir und fragt mich, was er mir bringen soll. Sein Rasierwasser weckt angenehme Erinnerungen. Ich bestelle einen Espresso und ein Glas Wasser. Wenig später balanciert er das Gefäß, in dem sich der Espresso befindet, auf einem hölzernen Tablett (die gleiche Farbe wie der Tisch) geschickt durch die Tischreihen, in denen sich zur Zeit keine Gäste befinden. Die Außenseite der Tasse ist mit roten Punkten verziert. Ich schlage mit dem Kugelschreiber gegen die Tasse. Der Kellner schaut mich forschend an und stellt dann das Wasserglas neben die Tasse. Ich schäme mich. Darum ist diese Übung jetzt zu Ende. |
Impuls vom 29.4.2021
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