Jung und Alt

Der kleine Junge griff nach der Hand der alten Frau. 
Die Hand war krumm und voller Falten. 
Der Junge betrachtete sie forschend 
und folgte mit den Fingern den Weg der Linien, 
die das Leben durch die Hand gezogen hatte. 
Dann legte er ein Blütenblatt in die Hand 
und schloss sie zur Faust.































Wann ist der Mann ein Mann?

Wann ist der Mann ein Mann?
*
Der Typ in der Glotze gefiel mir. Er hatte breite Schultern,
schmale Hüften und schoß auf alles, was ihm den Weg versperrte.
So wollte ich sein. Ich hatte es satt, dass alle mit mir den Larry
machten und mich an die Seite schoben. Schon als Kind tanzten die
anderen mir auf der Nase herum und schubsten mich in den Graben.
Ich wollte so werden wie er und übte vor dem Spiegel, so männlich
zu gehen, als hätte ich einen Colt an der Seite hängen.
"Musst du zum Klo?" fragte meine Oma mich.
"Nein! Ich übe, ein Mann zu sein!" antwortete ich und verdrehte
die Augen. Sie verstand aber auch gar nichts.
Ich lief auf dem Hof herum und versuchte, meine Schultern breiter
zu machen, indem ich tief einatmete und die Luft anhielt.
"Du platzt gleich!" rief Tante Ellie mir vom Nachbargrundstück zu,
wo sie gerade weiße Wäsche mit bunten Klammern an der Leine befestigte.
Alte Frauen hatten keine Ahnung davon, was wirklich wichtig war im
Leben. Aber das behielt ich natürlich für mich.
Ich zog den Bauch ein und versuchte, gespannt wie ein Flitzebogen,
über die Straße zu schreiten. Hanno stellte mir ein Bein. Ich fiel
auf den Asphalt und meine Nase blutete.
"Wenn du ein Mann werden willst, musst du dich abrollen können,
so weich wie Butter!" sagte er.
"Sonst zerbrichst du wie Eis!" 

Als Vater müde war

Als mein Vater müde war, 
lehnte er seinen Kopf 
gegen die Schulter des fremden Mannes, 
der neben ihm saß. 
Die Bewegung der Bahn 
schaukelte beide Männer hin und her. 
Vater fühlte sich geborgen, 
wie auf einem schlafenden Wal. 
Das Tattoo auf der 
muskelbepackten Schulter 
des neuen Nachbarn 
roch nach Vanille und Zimt. 
Als Vater aussteigen musste, 
seufzte der Fremde. 
Vater winkte ihm zu, 
kam nach Hause 
und erzählte es mir.




Am Ankerplatz

Ich habe Anker 
in den Grund geschlagen, 
damit mein kleines Schiff 
sich nicht bewegt. 
Ich wollte mich 
in Sicherheiten wiegen 
und habe meinen Kutter lahmgelegt. 
Jetzt bin ich 
an dem Ankerplatz verrostet. 
Ein Preis, 
den eine Sicherheit wohl kostet. 

Ich würde meine Anker gerne lösen 
und mich vom Strom 
des Wassers treiben lassen. 
Vertrauensvoll 
in Wind und Sonne dösen 
wird sich wohl nicht 
so einfach lernen lassen. 

Ich würde es trotzdem 
sehr gern versuchen. 
Wenn ich ertrinke, 
werdet ihr mich suchen?




























Ich bin nur eine dumme Kuh

Ich bin nur eine dumme Kuh
für dich. Du denkst dir, wenn ich mu-
he, muhe ich allein für mich.
Doch nein, ich muhe auch für dich.
Ich will, dass du mein Weinen hörst,
wenn du mich und mein Kälbchen störst.
Weil du mich meiner Milch beraubst,
darfst du mein Kälbchen, wie du glaubst,
ganz einfach von mir nehmen.
Du solltest dich was schämen!

Mein Euter, das ist voll und prall
wie bei den Kühen überall,
die in Maschinen eingesperrt
gemolken werden. So verkehrt
ist diese tierwohlferne Welt.
Ich klage, dass mir das missfällt
und wünsch mir, es gäb ein Gericht,
dass alle Menschen schuldig spricht,
die sich an meinem Milchfluss laben,
jedoch noch nie gesehen haben,
wie sehr ich täglich leiden muss
für stundenlangen Milcherguss.

Auch bitte ich noch ganz zum Schluss
um den Verzicht auf Fleischgenuss,
es sei denn aus dem Krankenhaus
trägt jemand eine Leiche raus.
Die schmeckt vielleicht genauso gut
wie Steaks, bezahlt mit Kälbchenblut.

Das Haar in der Suppe

Das Haar in der Suppe,
es ist eine Fliege.
Ein Daumen, ein Finger,
damit ich sie kriege. 

Nun liegt sie am Boden. 
Ich hab sie besiegt. 
Ich bin der Gewinner, 
weil sie nicht mehr fliegt. 

Sie schaut ja so traurig, 
als wäre ich schlecht. 
Ich will sie jetzt töten. 
Das ist nur gerecht. 

Die Fliege ist doch nur 
ein dummes Insekt 
und schuld daran, 
dass mir die Suppe nicht schmeckt. 

Nun schaut sie schon wieder 
und blinzelt mich an. 
Sie zwinkert und zwinkert 
so schön, wie sie kann. 

Ist sie eine Zauberin, 
die sich verkleidet 
und nur wegen meiner 
Verdrossenheit leidet? 

Wie sind ihre Flügel 
so märchenhaft zart. 
Hier hat sich die Schönheit 
mit Klugheit gepaart. 

Ich hebe sie auf 
und dann küsse ich sie, 
denn so was Bezauberndes 
sah ich noch nie. 

Der Zufall hat uns 
wohl zusammengeführt. 
Ich dank ihm von Herzen 
und bin ganz gerührt. 

 

Ich vermisse dich

Ich vermisse dich, 
wenn der leere Brotkorb 
auf dem Tisch steht. 
Ich vermisse dich, 
wenn das ungespülte Geschirr 
sich stapelt. Ich vermisse dich, 
wenn mein Rücken juckt 
und mein Arm zu kurz ist, 
um mich dort zu kratzen. 
Ich vermisse dich, 
wenn ich in Eile bin 
und du mich an 
die Hausschlüssel erinnerst. 
*
Ohne dich bin ich ein Korb ohne Brot, 
eine Spüle mit schmutzigem Geschirr, 
ein ungekratzter Rücken. 
Ich stände vor meiner 
verschlossenen Tür 
und käme dann 
nicht mehr ins Haus.
Heimatlos wäre ich
ohne dich.