Gehen Sie weg!

Auf der anderen Straßenseite hockt sie hinter dem Fenster
wie ein böses Tier und belauert die Strasse. Vor dem Fenster
steht ein Schild mit dem Hinweis, dass man sich hier in einem
Parkverbotsbereich befindet.
Sobald ein wagemutiger Autofahrer versucht, seinen Wagen vor
dem Haus zu parken, schießt sie nach spätestens drei Minuten
aus der Haustüre heraus. Sie sieht aus wie die Spinne, die
sich auf die in ihrem Netz gefangene Fliege wirft, gestikuliert
mit ihren dünnen Armen, macht Grimassen und beschimpft die
betroffenen Autofahrer auf das Gröbste.
Die Autofahrer werden von diesem Überfall vollkommen überrascht
und reagieren entweder erschreckt, indem sie sofort wegfahren
beziehungsweise wieder ins Auto zurückspringen und das Weite suchen.
Oder aber die Kampferprobteren werfen sich ins Gefecht und
beschimpfen ihrerseits die schimpfende Frau, sie sei ja nicht
ganz gescheit und überhaupt wäre es unverschämt, harmlose
Autofahrer auf diese Weise anzugehen.
“Sie sind unverschämt!” schimpft sie dann. “Sie halten sich nicht
an die Regeln! Gehen Sie weg! Gehen Sie weg!” und dabei schlägt sie
mit ihren Fäusten auf die haltenden Autos ein, bis auch die Mutigsten
den Kampf aufgeben und davondüsen.
Man merkt ihr an, wie erleichtert sie ist, wenn sie den Kampf
gewonnen hat.
Das Problem ist: Wenige Häuser weiter befindet sich eine Schule, ein
Gemeindehaus und ein Kindergarten. Im Zeitalter der Helikoptereltern,
in dem die Kinder keine 10 Schritte alleine machen dürfen und mit
dem Auto bis aufs Klo gefahren werden, stauen sich vor diesem Haus
manchmal die Autos mit Kindern und, in den meisten Fällen, kutschierenden
Müttern.
Morgens macht das keine Schwierigkeiten. Ich vermute, meine Nachbarin
schläft noch um diese Zeit. Aber wenn sich mittags die Autos in Schlangen
vor Schule und Kindergarten stauen, ist meine Nachbarin aufs Äußerste
gefordert. Mit den dünnen Armen gestikulierend springt sie zwischen
den Autos hin und her, wischt sich zwischendurch die Haare aus dem Gesicht,
steckt den Kopf über heruntergelassenen Fensterscheiben in die Autos hinein
und bekeift die genervten Mütter, die doch nur ihre Kinder wieder zurück
in das traute Heim begleiten wollen.
Sogar jetzt, wo sie offensichtlich Probleme mit den Beinen hat und sich unter
ihrer rechten Achselhöhle eine Krücke befindet, huscht sie zwischen den bunten
Autos hin und her. Mit der Krücke schlägt sie gegen die Räder. Mit der Handfläche
haut sie auf die Kühlerhauben und ruft:”Gehen Sie weg! Gehen Sie weg!”
Ich glaube, sie ist der letzte Mensch, der versucht, in dieser verrückten Welt
noch so etwas wie Ordnung aufrecht zu erhalten. Wirklich mutig diese Frau.
Eines Tages, wenn die Menschen erkennen, was wirklich wichtig ist, bekommt sie
das Bundesverdienstkreuz.

Gott weint

Die Lichtkegel der Scheinwerfer gleiten durch die grauen Wolken.
Dort, wo ihr heller Kreis die dunkle Formlosigkeit erfasst, sieht
man die Regentropfen zu Boden fallen und auf den ebenfalls grauen
Asphalt klatschen.
Die kichernden Geister, die oben auf den Wolken sitzen, patschen in
die Hände und lassen die Wassertropfen zwischen den Händen aufspritzen.
Gott schaut von oben auf die Geister und auf die Wolken und auf den
grauen Asphalt. “Wer hat meine schöne Erde so zugenäht mit Streifen aus
grauem Geschmier? Keine Wege sind mehr frei, auf denen die Lebewesen
umherstreifen können.” Die Regentropfen, die aus den Wolken fallen, sind
Gottes Tränen. Aber es sind Tränen der Wut. Gott beißt die Zähne zusammen,
um noch mehr Wasser aus den Wolken herauszuquetschen. Weil der Asphalt
überall die Erde verstopft, steigt und steigt das Wasser, so dass auch den
kichernden Geistern das Lachen im Halse stecken bleibt.
Unten auf der Erde gehen die Lichter aus. Die Wolken ziehen ihre Bahn immer
wieder und wieder um die Erde herum. Es hört einfach nicht auf zu regnen,
denn Gott lobt die Wolken und lässt seine mildtätige Hand durch das steigende
Wasser gleiten.

Tischliebe vergeblich

Er hatte seine Depressionen in ein Gefühlshandtuch gewickelt. Das hing nun am Haken.
Es baumelte im Wind, weil das Weltfenster geöffnet war. Es zog. Die Gabeltür war
nämlich auch geöffnet. Sie gab der Waldluft die Gelegenheit, sich in beide Richtungen
hin und her zu bewegen.
Die Situation war dem Versuch geschuldet, seine Schwammliebe loszuwerden. Am schlammigen
Ampelteich hatte er sich verliebt und seine Tischknospe die ganze Zeit angestarrt. Aber die
hatte nur voll Autotrauer auf den Boden geblickt. Schließlich kroch er zu ihr hin, warf sein
Lehrertuch vor ihr auf den Boden und begann, Worte in die graue Stofffläche zu zeichnen.
Mit Wutkreide schrieb er immer wieder:” Ich liebe dich! Ich liebe dich!” auf den grauen Stoff.
Als er es gar nicht bleiben ließ, hat sie ihn mit dem Waldlöffel auf den Kopf geschlagen. Auch
immer wieder. Ich liebe dich . Sie schlug. Ich liebe dich. Sie schlug. Bis er voller Verzweiflung
in die Wutkreide biss und den Mathetisch nach ihr geworfen hat.
Nun kam zuerst die Polizei und später die Depression. Er versuchte zwar, sie mit dem Depressions-
handtuch loszuwerden, aber es hing immer noch dort am Haken, um zu baumeln.
Das Lehrertuch lag auch immer noch auf dem Boden, wo es das “Ich liebe dich!” umschlungen hielt.

Die Toten sind alle verschwunden

Die Toten sind alle verschwunden,
um die Wahrheit im Geist zu erkunden.
Sie kümmern sich nicht mehr um unsere Welt,
die nur ihre sterbliche Hülle enthält.
Sie erforschen voll Neugier ihr Leben
und erkennen: sie schaffen und weben
all das, was in ihrem Bewusstsein entsteht,
was geboren wird und dann auch wieder vergeht.
Sie alle sind Meister des Lebens.
Kein Leben war jemals vergebens.
So lernen sie, selbst die Erbauer zu sein
und von Leben zu Leben den heiligen Schrein
immer kunstvoller fein zu erhalten
und die Leben mit Macht zu gestalten.

Dialog

“Bleib doch noch!”
“Ach, du immer.”
“Ich mein es doch nur gut.”
“Mit mir oder mit dir?”
“Ich weiß doch, wo du hinwillst!”
“Was du alles weißt!”
“Ich will nicht, dass du das machst!”
“Ist doch wohl meine Sache!”
“Eben nicht. Hinterher kommst du wieder
angekrochen und jammerst!”

Ein Zevenaar-Gedicht

Das Zevenaar-Gedicht (zeven = niederländisch = sieben)
besteht aus sieben Zeilen.
1. Zeile: Ein Ort
2. Zeile: Ein Ich-Satz und eine Tätigkeit
3. Zeile: Eine Frage oder ein Vergleich
4. Zeile: Die Situation genauer betrachten
5. Zeile: Noch näher heranzoomen
6. Zeile: 1. Zeile wiederholen
7. Zeile: 2. Zeile wiederholen
*
Im Himmel.
Ich sitze und meditiere.
Wird mein Geist klar genug sein?
Die Menschen auf der Erde
gehen alle ihren Weg.
Im Himmel.
Ich sitze und meditiere.
*
Im Keller.
Ich schlage gegen die hölzerne Tür.
Warum hat man mich eingesperrt?
Dunkelheit hält mich gefangen.
Mein Herz schlägt wild gegen die Brust.
Im Keller.
Ich schlage gegen die hölzerne Tür.
*
Auf dem Dach.
Eine Katze schleicht um den Kamin.
Was sucht sie in luftiger Höhe?
Ihre Tatzen kratzen am Ziegel.
Kleine Mäuse huschen davon.
Auf dem Dach.
Eine Katze schleicht um den Kamin.
*
Auf dem Kürbis.
Ich sitze auf ihm und denke jetzt nach.
Hilft die Natur mir, mich selbst zu verstehen?
Der Kürbis ist rot.
Unter meinem Gewicht sackt er in sich zusammen.
Auf dem Kürbis.
Ich sitze auf ihm und denke jetzt nach.

Cafeterrasse am Abend – Vincent Van Gogh

Bilder als Schreibanregung:

Ich bin durch Zufall in dieser mir fremden Stadt gelandet. Die Züge
fuhren nicht mehr weiter, weil es keinen Strom mehr gab. Die starken
Regenfälle der letzten Wochen bringen das Leben der Menschen durcheinander.
Aber hier ist es friedlich. Mein Hotelzimmer liegt in der Altstadt. Ich
sehe genau gegenüber ein Cafe, in dem die Leute gemütlich sitzen und das
Leben an diesem ruhigen Abend genießen. Endlich einmal regnet es nicht.
Endlich einmal zuckt kein Blitz über den Himmel und es ist kein Donnergrollen
zu hören.
Im Gegenteil. Der Himmel ist dunkelblau und hängt voller Blüten. Eine Kutsche
nähert sich. Sie rollt durch das enge Tor neben der Kirche. An der Kutsche hängen
links und rechts Laternen, die mit ihrem gelben Licht die Straße beleuchten.
Wie tröstlich das alles auf mich wirkt. Alles scheint in gelbes Licht getaucht zu
sein und die runden Tische des Cafes passen in diese Harmonie (unterstützen dieses
harmonische Bild – ist vielleicht besser, meint mein Rechthaber)
(Ein Rechthaber ist nämlich kein Liebhaber, aber das nur nebenbei)
Alles ist friedlich hier, außer meinem Rechthaber, der meint, das sei doch alles
ganz schön langweilig und ob wir nicht die Kutschpferde ein bißchen durchgehen
lassen können, damit die Menschen kreischend zur Seite springen müssten und es gäbe
ja nicht mal eine Pfütze nach dem vielen Regen, durch den die Räder Dreck verspritzend
rollen könnten. Wie das denn möglich sei, dass nach dem vielen Regen nicht mal ein Pfütze,
du kennst diese Sorte Geschwätz.
Aber er kann mich mal. Für mich ist der Abend friedlich und ich genieße es einfach,
das Leben.

Schreibmuskel 0005

Der nächste Sinn, dem ich mich zuwenden möchte, ist der Geruchssinn. Bei der olfaktorischen
(olfacere = riechen) Wahrnehmung können außer den Geruchsreizen auch noch andere taktile,
chemische oder Geschmacksreize Auslöser sein. Manche Gerüche werden nicht bewusst wahrgenommen
und können das Verhalten des Menschen beeinflussen.
Lebewesen sondern Gerüche ab, um ihre Umwelt zu beeinflussen. Das kann ein würziges Aroma sein
oder Fäulnisbakterien, um Fliegen anzulocken. Es kann herb oder süß riechen, verführerisch oder
penetrant. Die Charakterisierung der Düfte kann lauten: verbrannt, frisch, modrig, faulig, erdig,
stinkig, dreckig, speckig, gärig, sauer, basisch, seifig wie eine Lauge, miefen, müffeln ….
Wobei die Blüte duftet und der Abfall stinkt.
Die Aktivität des Riechens zu benennen, finde ich schwierig. Es gibt so wenig Worte dafür. Vielleicht
weil dieser Sinn so weit außerhalb der bewussten Wahrnehmung liegt.
Ich komme nur auf: riechen, schnüffeln, schnuppern, wittern, beschnoben, in die Nase steigen,
flehmen (bewusstes Wittern mit offenem Maul), das Bouquet oder Bukett eines Weines einatmen,
der Duft, den die Aromen versprühen,
Morgens freue ich mich über den Duft des Kaffees, den Geruch des Duschgels und des Shampoos. Gehe ich
aus dem Haus, laufe ich an einer Hecke vorbei und schnuppere pflanzliche Ausdünstungen aber auch die
Hundescheiße, die dort hinterlassen wurde.
Den ganzen Tag umgeben mich Gerüche.

Davon inspiriert, schreibe ich:

Hase wackelt mit der Nase.
Gas steigt auf in seine Nase.
Schinken stinken.
Schufte duften.
Schweiß riecht man, wenn Menschen schuften.
Wie Lavendel riecht wie Mama,
macht sie sich chic für Papa.
Schokoduft hat mich verführt,
wenn die Oma Pudding rührt.
Die Aromen von Zitronen
sollen in dem Kuchen wohnen.
Ganz egal, ob Duft, ob Mief.
Dies wird mein Geruchs-Archiv!

Sollte man sich auf jeden Fall anlegen,
um darauf zugreifen zu können.

Schreibmuskel 0004

Gestern habe ich mich mit dem haptischen Sinn beschäftigt. Heute möchte ich meine
Aufmerksamkeit dem Hören widmen. Wenn ich meine Wahrnehmungsfähigkeit als Autor
verbessern will, ist es gut, mich mit meinen Sinneseindrücken auseinanderzusetzen.
So denke ich darüber nach, welches Wort ich nehmen kann, um zu beschreiben,
wie Luft oder Gas entweicht: zischen
wie Holz im Feuer brennt: knistern, knacken
wie der Wind durch Bäume weht: rauschen
Aber auch ein Bach kann rauschen.
Wie komme ich zu einer genaueren Beschreibung meiner Höreindrücke?
Ich kann bei den Geräuschen beginnen:
knattern, flattern
und untersuchen, wie sie entstehen.
Motorengeräusch, Flügelschlag
Ich kann Geräusche auch dadurch charakterisieren, dass ich schildere, wie sie
entstehen.
Zerreißen von Papier
Einschlagen eines Nagels
Zucken von Schmetterlingsflügeln
Natürlich kann mein Text auch dadurch lebendiger werden , dass ich
Lautmalereien etwa in Form der Comicsprache einbaue:
ZONG! BOING! ZACK! BRUMM! WAMM! SLAM! WUSCH! KABOOM! WOW! MIAU! SPLASH!
Jedenfalls lohnt es sich, Listen anzulegen, in denen man Ausdrücke für Gehörtes
sammelt, um gegebenenfalls darauf zurückzugreifen.
gluckern, blubbern, plätschern, tropfen, platschen, klatschen etc.

Von diesen Gedanken inspiriert, schreibe ich:

Ein Tropfen fällt und platscht ins Nass.
Konzentrisch kreist’s im Wasserfaß.
Das Wasser gluckert frech am Rand,
wo sich bisher kein Plätschern fand.
Zwei Elstern kreischen, pfeifen, flöten
und wollen kleine Vögel töten.
Man sieht sie auf ihr Opfer starren,
hört, wie sie mit den Krallen scharren.
Ein ZONG! Ein WUSCH! Ein Peitschenknallen!
Schon sieht man Elstern wimmernd fallen,
denn über knirschend morsche Bretter
nähert sich singend unser Retter,
der scheppernd seine Peitsche schwingt,
die so wie Blech auf Eisen klingt.

Schreibmuskel 0003

Meine Schreibmuskeln zu trainieren bedeutet auch, dass ich versuche, die Welt bewusster wahrzunehmen.
Je klarer ich sehe, höre, rieche, schmecke und ertaste, was um mich herum geschieht, um so deutlicher
kann ich meine Eindrücke in Worte fassen. So können andere beim Lesen spüren, was ich gespürt habe.
Wenn ich Dinge anfasse, erfahre ich etwas über ihre Größe, ihre Temperatur und ihre Masse.
Wenn ich sie anhebe, fühle ich, wie schwer oder leicht sie sind. Ich kann ihre Form ertasten und
ihre Konturen beschreiben, über die Oberfläche streichen, um ihre Struktur zu berühren. So kann
ich etwas über ihre Textur erzählen.
Einen Stoff zu berühren, ist eine Möglichkeit, diese Sinnlichkeit zu erleben.
Ich streichle über etwas Pelziges oder lasse meine Hand über etwas Glattes gleiten.
Wenn meine Hand einen rauen Untergrund spürt, wird sie vorsichtig. Sie liebt weichen Stoff, der
kühl in der Hand liegt, vor allem an einem heißen Sommertag.
Ich fühle mich in das Thema ein und schreibe:

Ein Kleiderstoff, dünn und so zart wie gehaucht,
in Nußschalen lagernd, noch niemals gebraucht,
wird herausgehoben von tastender Hand,
die noch nie zuvor etwas so Samtweiches fand.
Dieser Stoff fließt nun kühl über spürende Haut,
wird gedreht und gewendet und staunend beschaut.
Diese tastende Hand will auf Tuchfühlung gehen
und diesen Stoff nicht mehr nur wenden und drehen,
nein, sie will ihn begreifen und mit ihm zerfließen,
wenn wir sie nur ließen.
Doch bevor dies geschieht legen mit strengem Blick
wir den Stoff in die offenen Schale zurück.