Ein Gedicht will nicht mehr leben

Ein Gedicht will nicht mehr leben,
ist bereit, sich aufzugeben,
weil man es hier nicht mehr braucht.
Wenn es zu Gott-Vater betet,
der einst seinen Leib geknetet
und ihm Odem eingehaucht,
öffnen sich vielleicht die Türen
und zwei sanfte Engel führen
es dann in das Himmelslicht.
Hört nur, wie der Vater spricht:
“Du willst also wirklich sterben
und der Welt all das vererben,
was du angesammelt hast?
Deine ganze Lebenslast,
jegliche Erinnerung
fällt dann ab bei deinem Sprung
von der Erde hier herauf.
So ist nun der Dinge Lauf!”
Daraufhin spricht das Gedicht:
“Dann will ich es jetzt noch nicht!
In den Himmel hochzuspringen,
kann ja später noch gelingen!”,
atmet aus und atmet ein.
“Ich will doch noch unten zu sein!”

Die 8 steht für Unendlichkeit

Die 8 steht für Unendlichkeit.
Die Bögen öffnen sich ganz weit
zur Unter- und zur Oberwelt,
die unsre Mittelwelt erhellt.
Nur leicht gedreht zu beiden Seiten
kann 8 unser Bewusstsein weiten,
damit wir uns als Geist erkennen
und unser Ziel: “Freiheit” erkennen.

Ein Gedicht auf dem Balkon

Ein Gedicht auf dem Balkon
öffnet seine Blüten schon.
Es genießt das Sonnenlicht,
zu dem es vertraulich spricht:
“Lass die Farben deiner Strahlen
meinen Körper bunt bemalen,
dass ich leuchte und erblühe!
Bitte, mach dir diese Mühe!”
“Mach ich!” grüßt das Sonnenlicht.
“Das ist schließlich meine Pflicht!”

Greisenlauf in Griechenland

Der Greisenlauf in Griechenland
war ihm bisher grad unbekannt.
Doch das Gedicht hat sehr viel Kraft
und folgt stolz seiner Leidenschaft,
weil es sich angemeldet hat
beim Marathon in Land und Stadt.
Es rennt erhitzt durch ganz Athen,
ist sehr erschöpft, kann kaum noch geh’n.
Doch es will sich beweisen
und lässt den Kreislauf kreisen,
bis dieser Kreislauf nicht mehr kreist
und es in seine Schranken weist.

Ein zwickendes Gedichtchen

Arabella hat mir ein Gedichtchen gestrickt,
das mir viel zu eng ist und fürchterlich zwickt.
Ich trage es ihr zu Ehren
und würde mich niemals beschweren,
denn schließlich hat sie es nur gut gemeint
und beim Stricken vor Glück in die Wolle geweint.

Gedrechselte Hexengedichte

Meine Nichte hat Hexengedichte gedrechselt
und sie bei der Post mit den Versen verwechselt,
die sie leichten Herzens in Internet schickte,
wo Hexe die Lichter des Lebens erblickte.
Dort fing sie dann an, sich wie wild zu verbreiten.
Sie begann frech, durch künstliche Netze zu reiten,
um Hexenflüche und -sprüche zu singen,
und die Internetwelt durcheinanderzubringen.

Mit dem Körper schreiben

Meine Hände tasten an einer Wand entlang.
Sie fühlt sich angenehm kühl an, ist aber unsichtbar.
Ich schiebe den Ellbogen gegen die Wand, schlage mit
der Faust in sie hinein. Die Faust prallt zurück.
Ich drücke mein Schädeldach gegen die Wand,
klemme ein Knie zwischen mich und die Wände, die mich
umgeben. Mit dem Rücken schiebe ich mich an der einen
Wand entlang, reibe mit der Schulter an einer Ecke, rutsche
mit dem Hintern an ihr weiter, presse meine Nase gegen
die glatte Fläche. Ich stecke meine Ferse in eine Vertiefung,
die mir Halt gibt, lasse die andere Fußsohle weitergleiten,
bis meine verzweifelten Zehen eine Kante zu fassen kriegen,
eine Mulde, ein Hoffnung. Die Himbeere der Hoffnung.
Eine Öffnung in der Wand lässt sich ertasten, ein Weg nach
draußen, aber nur, wenn ich mich ganz dünn mache, dünner
als eine Himbeere, aber die ist schon in meinem Mund
verschwunden und rutscht in der Speiseröhre abwärts. Ich
sehe sie ganz deutlich, denn mein Körpe ist aus Glas. Darum hat
man mich hier eingesperrt. Ich bin zu zerbrechlich, um in
dieser lauten, harten Welt zu überleben. Aber immer hier drin
zu bleiben, hat auch keine Zukunft für mich. Ich suche einen
Ausweg, sehne mich nach dem wirklichen Leben da draußen, stemme
mich mit all meiner Kraft gegen die elastischen Wände, drücke mit
den Füßen gegen alle vorhandenen Widerstände, die ich spüren kann.
Bis plötzlich etwas platzt und ich mit viel Flüssigkeit
hinausschieße in einen hell erleuchteten Raum.
*

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Ein verschmähtes Gedicht

Dieses von Vielen verschmähte Gedicht
schämt sich für seine Sehnsüchte nicht.
Moralapostel und strenge Beter
wollen es nutzen als Fußabtreter,
indem sie ihm einzureden versuchen,
es hätte auf dieser Welt nichts zu suchen.
Sie behaupten beharrlich,
es wäre sehr schlecht.
Dabei ist es nur echt
und lebt authentisch die wahren Gefühle.
Doch damit gerät es arg zwischen die Stühle.
Von frommen Nonnen drangsaliert,
von guten Bürgern schikaniert,
beginnt es nun, um sich zu wehren,
in allen Ehren,
Moralapostel und Beter zu töten.
Denn das ist vonnöten.
Wer will es denn diesem Gedicht auch verdenken?
Soll es sich verrenken?
Die Hälfte der scheinheilig lächelnden Sippe
stößt es mit Genuss von der zackigen Klippe.
Die anderen tötet es mit einem Messer,
denn die waren, kurz gesagt, auch nicht viel besser.
Nun steht es da, aufrecht, beladen mit Schuld.
Vielleicht hätte ihm ja ein wenig Geduld
doch besser zu Gesicht gestanden
anstatt in diesem Knast zu landen.

Gesprächsfetzen

Ich möchte mich nicht
auf Gesprächsfetzen setzen.
Sie können verletzen,
sogar im Gedicht.
Auch in meinen Ohren und meinem Gehirn
dulde ich diese Worte jetzt nicht.
Sie schwirren gesprochen durch Zeit und Raum,
so unscheinbar, man hört sie kaum.
Doch ihre Wirkung geht sehr tief,
auch wenn man nicht nach ihnen rief.
Sie werden zu meinen Gedanken
und sie dulden dabei keine Schranken.
Verkleidet als meine Erinnerung
schaffen sie den kleinen Sprung
in mein Bewusstsein
hinein.
Das ist so gemein!