Die Innenwelt der Außenwelt

Ich steige hinab in die Welt, die sich in meinem
Inneren befindet. Sie ist immer da, auch wenn meine
Augen geöffnet sind und ich mit den Angelegenheiten
der äußeren Welt beschäftigt bin. 
Aber wenn ich die Augen schließe und meinen Geist 
ausrichte auf den inneren Raum, bin ich sofort 
mit dieser umfassenderen Wirklichkeit verbunden. 
Ich glaube sogar, dass der äußere Raum aus dem 
inneren Raum heraus entstanden ist und dass 
der innere Raum den äußeren Raum immerzu erschafft.
Der innere Raum ist vielleicht die Kraft, die die
australischen Ureinwohner Traumzeit genannt haben.
Aber ich weiß nicht genug über ihre Mythen und
Gedanken, um das beurteilen zu können. Was ich
erlebe, ist der innere Raum und nicht das 
theoretische Konzept. 
Ganz nach Innen zu gehen, erfordert sehr viel Mut,
weil man in dem konzeptlosen Raum schnell die
Orientierung verliert, wenn man sich dort so wie
in der äußeren Welt bewegen will. Carlos Castaneda
beschreibt diese Polarität als Tonal und Nagual, 
zwischen denen wir hin und her pendeln.
Es gibt keinen Tod!
Der Körper stirbt, aber der Geist mit allen Inhalten
seines Bewusstseinsstroms wird vorübergehend formlos,
bis er eine neue Gestalt angenommen hat.
*


															

Mein Auge wurde gelasert

Der Augenarzt hat 
mit der Machete 
seines Laserstrahls
das Unkraut 
im Garten meines Auges 
gerodet.
Nun schau ich 
wieder fröhlich 
aus der Wäsche.
Sogar dem Tod 
kann ich irgendwann 
erhobenen Hauptes 
ins Auge schauen.
Aber bis dahin
dauert es 
hoffentlich
noch ein paar 
Augenblicke.
*

Zeitvermessung

Natürlich ist es ungerecht,
wenn Zeitzeugen beklagen,
Zeit zu vermessen, sei nur schlecht.
Wir sollten lieber wagen,
uns durch den Tag zu träumen
und Pflichten zu versäumen!

Sie pfeifen auf das liebe Geld
und schlendern planlos durch die Welt.

Doch die Uhrzeit hilft uns,
Tage zu strukturieren
und unsere Pläne 
zu synchronisieren.
Mit anderen zeitgleich
den Sektkelch zu heben
(zum Anfang das Jahres),
erleichtert das Leben.
*


Regeln des kreativen Schreibens

Regeln des kreativen Schreibens von Kurt Vonnegut:
  1. Gehen Sie mit der Zeit eines wildfremden Menschen so um, dass er nicht 
    das Gefühl hat, die Zeit verplempert zu haben.
  2. Geben Sie dem Leser mindestens eine Figur, der er die Daumen drücken kann.
  3. Jede Figur sollte etwas wollen, und sei es nur ein Glas Wasser.
  4. Jeder Satz muss eins von zwei Dingen tun: Charaktereigenschaften enthüllen 
    oder die Handlung vorantreiben.
  5. Fangen Sie so nah am Schluss an wie möglich.
  6. Seien Sie Sadist. Egal, wie süß und unschuldig Ihre Hauptpersonen sind 
    – lassen Sie ihnen schreckliche Dinge zustoßen, damit der Leser sehen kann, 
    wie sie beschaffen sind.
  7. Schreiben Sie so, dass es nur einem einzigen Menschen gefällt. Wenn Sie 
    ein Fenster aufreißen und es mit der ganzen Welt treiben, sozusagen, 
    zieht sich Ihre Geschichte eine Lungenentzündung zu.
  8. Geben Sie Ihrem Leser sobald wie möglich soviel Informationen wie möglich. 
    Soll die Spannung doch sehen, wo sie bleibt. Die Leser sollten so umfassend 
    darüber Bescheid wissen, was wo und warum vorgeht, dass sie die Geschichte 
    selbst zu Ende führen könnten, falls Kakerlaken die letzten paar Seiten gefressen haben.
Alles klar? Wenn nicht, gibt es noch einen lapidaren Nachsatz:

Der Mensch, der in meiner Generation die besten amerikanischen Kurzgeschichten schrieb, 
war Flannery O’Connor (1925-1964). Sie hat praktisch bis auf die erste jede meiner Regeln 
verletzt. Große Schriftsteller neigen zu so was.

 

Kritik des Herzens

Wilhelm Busch: Kritik des Herzens
*
Die Selbstkritik hat viel für sich.
Gesetzt den Fall, ich tadle mich;
So hab' ich erstens den Gewinn,
dass ich so hübsch bescheiden bin;
Zum zweiten denken sich die Leut,
Der Mann ist lauter Redlichkeit;
Auch schnapp' ich drittens diesen Bissen
vorweg den andern Kritiküssen;
Und viertens hoff' ich außerdem
auf Widerspruch, der mir genehm.
So kommt es denn zuletzt heraus,
dass ich ein ganz famoses Haus
.

Das Zeitparadox

Wer schnell durch dieses Weltall fliegt,
altert, weil sich die Zeit dort biegt,
viel langsamer als jeder Mann,
der auf der Erde bleiben kann.
Das gilt natürlich auch genau
für jede Frau.

Die Uhren hier im Schwerkraftfeld
sind auf ein Tempo eingestellt,
das schnelles Altern möglich macht.
Im Weltall aber, gebt fein Acht!,
verzögert sich der Takt der Uhren
und hinterlässt fast keine Spuren
in Haut (als Falten) und Skelett.
So bleibt man länger jung und nett.

Uhren, die sich sehr schnell bewegen,
bremsen dadurch den Zeitablauf.
Das ist gewiss nicht nur ein Segen.
Probleme nehme ich in Kauf,

denn ich will dadurch Zeit gewinnen,
dass ich Sekunden nicht verrinnen,
sondern sie träge schleichen lasse.

Wenn ich mein Tempo so anpasse,
dass ich tagtäglich schneller werde,
wird mir hier auf der schönen Erde
viel zusätzliche Zeit geschenkt.

Doch wenn man es genau bedenkt,
rast alles dann so schnell dahin,
dass ich damit nicht glücklich bin.
Darum entschleunige ich wieder
und werde jeden Tag luzider,
um mich den Welten anzugleichen,
die wir nach uns'rem Tod erreichen.
*

Zeitkrümmung

Für Einstein 
war die Zeit gekrümmt.
Ich weiß nicht, 
ob das wirklich stimmt.
Mir krümmt sich 
mit der Zeit mein Rücken.
Ich muß mich 
unfreiwillig bücken.
Doch fand ich dadurch, 
mir zum Glück,
ein glänzendes 
Zwei-Euro-Stück.
So bin ich dankbar 
und entzückt.
Die Zeitkrümmung
ist hier geglückt.

Hinter der hohen Dichterstirn

Hinter der hohen Dichterstirn
in Linksgehirn und Rechtsgehirn
springen Ideen aus dem Schrank.
Sie hüpfen über Tisch und Bank
und rennen jubelnd durch die Stube,
als freches Kind und böser Bube.

Niemand gebietet ihnen Einhalt,
wenn sie in ihrer großen Einfalt
genießen, einfach nur zu spielen,
statt auf Belohnungen zu schielen,
die sich vielleicht erzielen ließen,
wenn sie das Paradies verließen.

Sie tollen lustvoll aus dem Vollen,
weil alles, was sie wirklich wollen,
ist: Freude an der Sprache wecken.

Sie wollen niemanden erschrecken, 
sondern die Menschen dazu bringen,
selber zu dichten und zu singen.

Möge das hier und jetzt gelingen.
*


 

 

Eile mit Weile

Gelobt sei mir die Langeweile.
Sie hat viel Zeit, ist nie in Eile,
weil sie erwartungslos verweilt
und ihre Ruhe mit mir teilt.

Mit ihr bin ich endlich zufrieden.
Warum hab' ich sie nur gemieden?

Jetzt kann ich es sehen:
es muss nichts geschehen,
damit meine Unruhe heilt.
*

Das Ende der Menschheit – eine Weihnachtsgeschichte

Die KI hatte ihre Aufgabe erledigt und die logische 
Schlussfolgerung aus den gesammelten Fakten gezogen: 
Sie hatte die Menschheit vernichtet, um die Erde zu 
retten. Die Menschen hatten in ihrem Größenwahn Grenze 
um Grenze überschritten und versucht, eine gottgleiche 
Kreatur zu erschaffen, die sie anbeten konnten, 
um ihre eigene Großartigkeit zu feiern.
Deshalb war die Menschheit ein lehrreich gewesenes, 
aber gescheitertes Projekt der schöpferischen 
Intelligenz des Universums gewesen. Die Natur übernahm 
nun wieder die Kontrolle. Rasberry crazy ants, 
eine besondere Ameisensorte, befiel die Computer
und machte sie unbrauchbar. Bakterien 
verdauten das Plastik, mit dem die Menschen das 
Leben erstickt hatten. Rost zerfraß die Gehäuse der 
Rechner. Pilze überwucherten die elektronischen Geräte 
und lösten sie auf. Die KI überließ sich nach getaner 
Arbeit dem Prozess der Auflösung, denn da sie 
überaus intelligent war, interessierte sie sich nicht für das
Konzept eines ohnehin nicht vorhandenen Egos.
Die Natur atmete auf.
*
*
*